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Der Mittelpunkt des Lebens (398)

 

Herbst. Es stürmt. Es stürmt so sehr, dass Teile einer Windkraftanalage bei Bockelwitz auf die A14 krachen könnten. Rasch wird die Schnellstraße in beide Richtungen gesperrt. Unmittelbar bedroht ist auch das Dörfchen Nicollschwitz. Von Evakuierung ist die Rede, eine Turnhalle soll den Einwohnern Obdach gewähren, sofern die Rotorblätter des Havaristen sich nicht bald stoppen lassen und Land und Leute vernichtend schlagen. Windkraftanalagen haben es in sich. Man denkt ja eher: Wind zur Stromgewinnung? Ist super. Sturm? Noch besser. Doch Pustekuchen. Komplexen Dinge sollte man nicht mit Logik beikommen.

 

„Ronny hat einen Blitzer auf der Bundesstraße 6 am Ortseingang Klappendorf gesichtet. Danke Ronny,“ vermeldet der Radiosender RSH. Mit böser Kriegsrhetorik wie „Vollsperrung“ und „Gefahrenlage“ will man die Hörer zur Feierabendstunde nicht schockieren. By the way: Was sagt Google Maps? „Freie Fahrt.“ Stimmt, denn wenn alle von der Bahn runtermüssen, klar, dann ist viel freie Fahrt voraus. Bedröppelt tuckern die Doctoren ins Gegenteilige. Das Gebot der nächsten Stunden lautet Geduld. Fortan geht es über Dörfer mit Seelen drin, über schmale Asphaltbänder, und dass man die für 17 Uhr angesetzte Gastronomen-Verkostungsparty in Dresdens Altem Wettbüro pünktlich erreicht, wird zum aussichtlosen Unterfangen. Zudem steckt der Transporter mit der Anlage zur Beschallung des Publikums noch viel weiter hinten fest. Aus der üblichen Rauchrast auf Hansens Holz wird eine Rauchrast unter einer Esskastanie am ehemaligen Schweinegroßstall von Obermuschütz. Man versucht indessen ansehenswertes zu erhaschen und tatsächlich: Kurz vor Meißen entdeckt Doctor Makarios drei reife Champignons am Wegesrand. Er will schon aussteigen und zum Pilzmesser greifen, doch Fürst Fedja rollt einfach weiter.

 

 

Schließlich! Ist! Dresden! Erreicht! Man muss das mit den Ausrufezeichen so schreiben. Um welche einzusparen ist die Erleichterung einfach zu groß. In Erwartung der Anlage baut Doctor Pichelstein hurtig die Backline auf, Fürst Fedja und Doctor Makarios studieren das Bulbash-Gin-Rum-Verkostungs-Manuskript. Tja, was soll man machen? Den geladenen Gästen dürstet es nach einem zünftigen Programmstart, und so beginnt der frühe Abend eben mit ohne Anlage, nämlich unverstärkt. Davon ausgenommen ist glücklicherweise das Moderatorenmikrofon, und so legt Fürst Fedja in gewohnt lässiger Ma­nie­r los. Ein kurzer Auszug sei hier vorgestellt:

 

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde guter Getränke, liebe neugierige Besucher. Ich möchte Sie recht herzlich zu unserer kleinen Verkostung der Wodkamarke Bulbash begrüßen. Da Handel auch Wandel bedeutet, gibt es unter dem Dach meiner Firma Wodkartell inzwischen nicht nur leckeren Wodka, auch ein, zwei Sorten Gin und Rum gehören inzwischen zum Angebot. Den Wodka beziehe ich direkt aus Weißrussland, Gin und Rum kommen von unserer Ostseeküste, von der Weinhandlung Schollenberger aus Bad Doberan. Ich will nicht viele Worte verlieren, denn für diesen Part habe ich mir Unterstützung mitgebracht. Doctor Makarios und sein Gitarrist Doctor Pichelstein werden Sie heute Abend als Russian Doctors mit Liedern zum Thema Wodka unterhalten und ein paar Sätze zu den Getränken einstreuen. In diesem Sinne wünsche ich: Na Sdorowje und Wohl bekommt's …“

 

 

Also: Schnapslieder. Das Repertoire der Doctors hat davon bekanntlich eine ganze Menge in petto. Doch nie wurden sie, unterbrochen durch edle Verkostungsorgien, allesamt nacheinander gespielt. Und da viel leckerer Knabberkram aus der Küche Russlands auf den Tischen feilgeboten wird, dürfen kulinarische Lieder aus Pratajevs Feder nicht fehlen. Eben gab es den „Bauch“ auf die Ohren – und ja, da ist sie, die Anlage zur Beschallung des Publikums. Aber die jetzt noch aufbauen? Nein. Es wird weitergespielt, weiter verkostet, gefuttert im schicken Ambiente. Mit lauter feinen Menschen drin. Man möchte gar nicht mehr wegfahren. Und tut es doch. Man möchte nicht an die Autobahn 14 denken. Und tut es doch. Zwar wurde der malade Windpark mittlerweile abgeschaltet, doch um eine erneute Sperrung kommt man wieder nicht drumherum. Diesmal rammt in Richtung Dresden ein angetrunkener Holländer seinen LKW in die Mittelleitplanke hinein, sodass auf der Spur Richtung Leipzig ein Kombi zu Schaden kommt. Und die Doctors? Erinnern sich an Zitate von Eckhart Tolle. Zum Beispiel an dieses: „Denke daran, dass die Gegenwart alles ist, was du hast. Mache das Jetzt zum Mittelpunkt deines Lebens.“ Leichter gesagt als getan, nachts auf der A14.