125 Jahre Glück (449)

 

Morgens, kurz nach 9 Uhr in Meißen: Specht an der Pensionstür? Nein, der Herbergsvater. „Ungekämmt und fern der Heimat,“ ruft er Türöffner Pichelstein entgegen, platziert das mitgebrachte Frühstück in der Küche und spielt sogleich YouTube-Videos einer ehemals dürren, drogensüchtigen, jetzt voll im Saft stehenden Bluesrock-Sängern ab. Als ihr Led Zeppelin-Arrangement „Stairway To Heaven“ ertönt, gefriert das Docs-Blut in den Adern. Makarios belehrt: „Es darf nur einen geben, der diesen Song singt. Und das ist Robert Plant.“ Pichelstein ergänzt: „Auch Gitarristen sollten sich nicht daran vergreifen. Vielleicht Blockflötenspieler, aber niemals Gitarristen. Stairway To Heaven möchte bitte nur Jimmy Page spielen.“

 

Späterhin geht es in ein ausstellungsreiches Hobbykeller-Labyrinth, das gut und gerne Filmkulisse für einen Edgar Wallace-Schinken hätte sein können. Titel: „Das Vermächtnis des Dr. Orgel.“ Mit Blacky Fuchsberger als Inspektor Higgins, Heinz Drache als Kommissar Wesby und Klaus Kinsky als schwarzlichtigen Dr. Orgel. Wenig später fährt der Herbergsvater-Sohn die Docs zum Auto am Sachsenkeller. Wir danken an dieser Stelle ganz herzlich für die Gastfreundschaft.

 

 

 

Wie sollte es anders sein? Es geht - vornehmlich über gebirgsverregnete Landwege – Richtung Tschechien, wieder einmal nach Petrovice. Zunächst in den Travel FREE-Shop auf gute Butter (Stück 99 Cent!), Kippen, Käse, Thunfisch und geistreiche Getränke. Schließlich ins Terrassen-Restaurant Orion (Suppen, Szegediner Gulasch, böhmische Knödeln usw.). Verlangt wird am Ende nach einer Bahre, nach süßen Träumen, doch nichts da. Das Tagesetappenziel lautet Weixdorf, gelegen an der Landezunge des Flughafen Dresden. Umwege eingeschlossen. 80 Kilometer entfernt wittert ein Isi-Dackel namens Frodo die Ankunft der Doctoren und rennt irrlichternd einem ehemals grünen Tennisball hinterher.

 

 

 

Frodo ist jener Kerl von einem Dackel, den man in die Kneipe mitnimmt, auf einen Barhocker setzt … schon schmelzen die Herzen aller harten Wirtinnen und es hagelt Lokalrunden plus Würstchen.

 

Wir befinden uns unmittelbar vor einer tatsächlich stattfindenden, coronabedingten Verschiebeparty. Die Anlässe haben sich gewaschen. 50 Jahre Jens (neulich). 50 Jahre Dani (eben erst). 25 Jahre Hochzeit. Ergibt 125 Jahre Glück. „Tja“, möchte man sagen. „Wo der Wein in der Fichte wächst, ist stets Gutes zu erwarten.“ Und er wächst, der Wein in der Fichte. Auf einem traumhaften Grundstücksstrand, der Natur größtenteils überlassen.

 

Doctoren schwärmen und schwärmen ist Meditation. Inmitten vielerlei Arten von Obst und Gemüse fordert ein sehr kleines Pferd Kirschen vom Baum, bekommt sie, knackt Steine und grinst wie auf einem Werbeplakat mit dem Titel „Reiterferien für Erwachsene“.

 

Neben Frodo ist Biberhund Poldi am Start. Und eine Klokatze. Psychisch auffällig, sehr alt, recht blind und taub. Katzen gehen bekanntlich nach Vollendung des siebten Lebens zum Sterben auf eine letzte Wanderschaft. Diese Katze wird indes beständig von Nachbarn zurückgebracht. Was soll man da sagen? „Einhorngangbang“ vielleicht, irgendetwas, was der Sache angemessen ist.

 

Ein für die Docs hergerichtetes Ferienhaus wurde bereits inspiziert, das Bühnenequipment steht bereit, Frodo wittert den Techniker. Der schreitet smart durchs Tor und muss schnurstracks Tennisball schießen. Kaltgetränke warten, bunte Butter wird geliefert, vieles mehr. Ein kulinarischer Reigen, wie einst am königlichen Sachsenhofe.

 

 

 

Tja, Ihr weichgekochten Influencerdödel, so was kriegt Ihr nie vors Handy. Es duftet, es sieht alles so aus, als hätte die Hochschule für Grafische Kochkunst (HGK) Abschlussarbeiten feinster Güte geliefert. Pichelstein kann gar nicht aufhören zu summen: „Die weißen Hauben der Köchinnen …“

 

Wolken ziehen, Sonne scheint durch, Flugzeuge landen, der Soundcheck verschlingt 15 Minuten. So muss das sein. Ein Satz, der gleichermaßen für den Ansturm der Partygäste gilt. Es hagelt Geschenke, Tische biegen sich drunter. Jeder Gast wird per Handschlag begrüßt. So muss Freundschaft sein. Und was sich liebt, das leckt sich.     

 

 

 

Nachdem das Garagen-Buffet zungeschnalzend, mit viel Effet erstgeplündert wurde, hält Makarios die Laudatio auf 125 Jahre Glück. Ein ergreifendes Momentum; vor Rührung kullern Tränchen über Lachfalten. Rasch noch ein paar Flüssigkräuter schnabulieren, das Intro läuft, Showtime. Da hält der Wind den Atem an!  

 

Makarios führt durchs Programm, Frodo knuspert mit geschickten Moves runtergefallene Tellerköstlichkeiten und Pichelstein sinniert über die Gründung einer Kapelle namens „The Russian Dackels“. Da die malade Katze als Sängerin ausfällt, muss das Pferd ran. Oder ein dicker Bauch. Der schreitet stolz vorbei: „Ach was ist das für ein Glück / Ich habe einen Bauch und der ist dick.“

 

Tada! Plötzlich steht Neulichjubilar Jens vorm Mikro und rezitiert Zeilen aus „Lila Nina“. Chapeau! Noch besser wird es, als eines der Partyhortkinder Pratajevs Weisen pantomimisch nachstellt. Die Docs kommen aus dem Grinsen kaum raus und überlegen schon, was bei „Gefesselt“ dargeboten wird. „Lange Haare“ muss fast unterbrochen werden, so herrlich wird tanzend die (nicht behaarte) Zunge in Dauerschleife rausgestreckt.

 

Pause. Erste Schnapsbar. Der Beamer präsentiert das digitalisierte Hochzeitstagvideo von vor 25 Jahren; Tochter Isi schlüpft ins unversehrte, taillierte Brautkleid der Mutti. Ein Farbrauschtraum, der durch Gedanken tropft.

 

 

 

Würde man das erste Set aus einer Froschperspektive heraus noch als Sturm am Teich bezeichnen, steigert sich der weitere Verlauf zum Orkan. Flaschen klirren, es wird getanzt, zu „Tote Katzen im Wind“ gibt’s Polonaise. „Hoffentlich fällt keiner in den Pool, denn der hat kein Wasser,“ denkt Pichelstein besorgt und bekommt schlussendlich einen Wodka direkt in den Schlund gekippt. Beim Spielen der vorvorletzten Schnapsbar. Es folgen Zugaben, Schnäpse, Zugaben, Schnäpse … und ein Konzertende mit schweißnassen Umarmungen. 

 

Wenige Minuten später kommt ein kurzer aber deftiger Platzregen herunter und klatscht gegen alles, was nicht stante pede unterm Verschlag steht. Polnischer Becherovka kreist, das Leben ist schön. Wie ein Ritt durchs Gemüsebeet, für jeden was dabei. Danke, liebe Gemeinde!

 

Fotos: jens/dani/isi

 

Schluss mit dem Apokalypse-Bingo (448)

 

Woche aus, Konzertwochenende an. Tragödien dieser Welt aus, weil Radio aus. Vortrefflich! Schluss mit dem Apokalypse-Bingo, mit Vera am Mittag anno 1999. So düsen die Docs Richtung Meißen und freuen sich über staufreie Autobahnen bei bestem Fahrwetter ohne Nachmittagshitze. Da fruchtet die alte Serienkilleranmache „Hallo … ich hab eine wunderhübsche Kühltruhe im Keller“ bei fluffigen 20 Grad Celsius nicht. Heute ist jeder Wunsch mit den Wolken - doch glaubt man gewieften Wetterinären, steigen die Temperaturen bereits Mitte nächster Woche wieder. Na gut, da sind wir schon wieder beim Apokalypse-Bingo angekommen.

 

Gegen Ende der Anreise rangiert Pichelstein den Tourgolf durch die einst mätressenverschlingende Porzellanstadt, Makarios liegt auf therapeutischer Basis (Akzeptanz!) mit der Navi-Dame im Klinsch. Bis der Sachsenkeller in Sichtweite ist und man direkt zu Füßen des Onkel Jörg abzubremsen vermag.

 

Onkel Jörg! Oder nur: Onkel. Meißens Kulturinstitution. Dass es der Sachsenkeller überhaupt durch eingefrorene Corona-Dekaden schaffte, ist fast allein ihm zu verdanken. Trotz aller Steine, die die Förderpolitik anfangs in den Weg rammte. Beim Ohne-Barista-Verzier-Kaffeebechertalk darüber sind schlecht fliegende Junikäfer im Juli zu beobachten. Sie landen rücklings und werden gnädig zum nächstliegenden Zucchini-Beet getragen.

 

 

 

Soundcheck. Einer, der wie eiskalte Butter längerfristig aufs Brot geschmiert wird. Potis und Fader kratzen, Schalter knacken, Boxen knallen, das sich noch im Coronatiefschlaf befindliche Mischpult möchte in die Waschanlage. Zu viel Staub und jede Menge Nebengeräusche. Doch der Onkel wäre nicht der Onkel, wenn er das nicht hinbekäme. Gesagt, getan, gelungen. Pichelstein kehrt noch rasch den inneren Monk raus und sortiert alle Bühnen-Kabellagen neu. Darauf ein sehr leckeres Kaltgetränk. Langsam füllt sich der Keller. 

 

Pratajevs Kohorten aus Großenhain, Dresden, Leipzig, Meißen (natürlich) tummeln sich; der Sachsenkeller darf heute eindeutig zum Sylt des Ostens stilisiert werden. Kapellmeister Makarios hat bereits jetzt am Merchstand eine Menge zu tun. Fast hätten die Docs die berüchtigten beiden Tour-Zeitformen des Futterns (Entweder essen oder schon wieder Hunger haben) vernachlässigt. Drum: rasch ein wenig Bockwurstkulinarik, noch einmal mit Kaltgetränken an die frische Luft, schon schallt das Intro von der Höh‘ – Hollaröhdulliöh.

 

 

 

Am 13. März 2020 spielten die Docs zuletzt hier. Es war die Zeit knapp vor der Corona-Apokalypse. In der Nacht schloss die Tschechische Republik alle Grenzen. Im Sachsenkeller traf sich zum letzten wilden Konzert ein überschaubarer, ausgehbeschränkter Kreis. Heute ist alles anders. Der Katzen-Pogo startet bereits nach „An ihrem Garten,“ kulminiert erstmals beim „Löffel aus Holz“ und alles tanzt aus der Reihe. Einträchtig bewundern die Docs die Situation und legen noch ein paar Briketts bis zur ersten Schnapsbar-Pause drauf.

 

Wie gut, dass es Bulbash gibt. Pichelstein tunkt in der Ecke ausruhend pulsierende Stahlsaiten-Finger hinein. Menschen, aus denen der Zapfhahn spricht, klopfen ihm auf die nassen Schultern. Ansporn genug für Runde zwei. Makarios leitet sie mit der „Harten Wirtin“ ein und der nächste Schnellgitarren-Weltrekord fällt. Der Rest des Konzertes darf sich - über alle Zugaben hinaus - getrost „wodkabecherschwer belohnte, schweißtreibende Glücksplackerei“ nennen.    

 

 

 

Paschka Parlierowna wird zum Schluss ein Ehrenpreis in Pratajevs Geiste verliehen. Ist sie es doch, die die Docs samt Herbergsvater im recht kuscheligen Auto auf dem Pensionsgelände abliefert. Glücklicherweise! Denn in Meißen sind zu nachtschlafender Stunde nur sehr wenige Taxifahrer unterwegs. Danke dafür und danke liebe Sachsenkellergemeinde.  

 

Bilder: Paschka Parlierowna

 

Unterkategorien