Pichelstein in Seenot: Frühe Schnäpschen und die Folgen (365)


Herrlich, dieses Kaiserwetter. Ein wahrhaftes Frühlingswochenende bricht über die Buchmessestadt herein und darüber erhabene Doctoren werden zum Frühschoppen chauffiert. Der erste seiner Art in der gemeinsamen Geschichte. Getreu den Worten des Wunderheilers Madeiro Portugalski dünkt Pichelstein die warnende Lehre: „Frühe Schnäpschen können Folgen haben.“ Welche genau, verriet Portugalski leider nicht und so wird schließlich im Radlerhof zu Gaschwitz gegen zehn Uhr in aller Frühe die Bühne errichtet. Seit Tagen sind die Sitzplätze im Saal ausverkauft, glücklicherweise kann nach draußen hin expandiert werden. Du Sonne am Himmel, du Gute. Nach dem gar nicht mehr enden wollenden Soundcheck, der sich unter Klatschen und Lachen der bereits Anwesenden wie ein erster Konzertblock anfühlt, reicht der Wirt erlösende Kaltgetränke. Fürst Fedja kippt sich derweil Mut an, soll es doch heute zu jeder Bulbash-Sorte mikrofonierte Vorträge geben. Warum ist es etwa für dünnhäutige Veganer auf dem Weg zur inneren Heimat unbedingt wichtig, Birkenblätterchen zu verkonsumieren? Solche Fragen bedürfen der Antwort des Vertriebspaten himself. Mit tänzerischer Grazie schreitet Fedja von der Schnapsbar zur Bierbank hin und her und feilt besonnen an Mimik, Gestik, Frisur und Rhetorik.

 

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Nachdem sich letzte Plätze mit hungrigen, durstigen Leibern gefüllt haben, Berlins Forscher Eademakow die erlauchte Position des Kameravollstreckers eingenommen hat, geht’s los. Ärzte ohne Bremsen kennen kein Fahrerlager. Mit Verve prescht Makarios durchs Landleben, nimmt jeden guten Schluck mit, den Pratajev einst wortreich veredelte. Die Sektion Böhlen, gepeinigt durch allerlei Schufterei, die ein Umzug mit sich bringt, durchlebt eine Phase des Ruhens. Schließlich ist Sonntag, es geht auf Schlag zwölf zu. Rasenmäher, Bohrer und Hammer schweigen. Kein Zuhälterwagen fährt vorbei, nein, es sind Radfahrerfamilien. Pichelstein, am Fenster der Bühnenecke mit herber Mezzohärte auf die Erlenholzige eindreschend, beobachtet beim Saitenstimmen immer dasselbe Bild: Ein Mann fährt voran, eine Frau mit den Kindern hinterher. Ein Mann deutet auf den Radlerhof, braucht eine Rast, ein Bier und mehr. Doch die Frau sagt: „Nein! Wir fahren der Sonne hinterher.“ Der Mann nickt traurig. Er sieht aus wie ein Hamster im Rad, Frau und Kinder sind auch darin gefangen. Die Kinder fragen: „Sind wir bald da?“ Doch das Hamsterrad dreht sich weiter der Sonne hinterher. Na gut, sowas geht einem Gitarristen manchmal beim Konzert im Kopf herum. Schnaps wird gereicht, Riesenapplaus, Pause, Vortrag Fürst Fedja.

 

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Weitere Darbietungsblöcke in genau dieser Reihenfolge ergeben sich geflissentlich, im Schweiße baden die Doctoren über die letzte Zugabe hinaus. In einer Ecke ist ein Schild in DDR-Schrift auszumachen, darauf steht: „Der Zutritt zur Tanzveranstaltung in Niethosen und Turnschuhen ist nicht gestattet.“ Prüfende Blicke. Niemand trägt Niethose, Turnschuhe kommen aber vor. Pichelstein fühlt bereits leichte Seenot aufsteigen, die sich nach dem Verputzen eines Bauernfrühstücks kurzfristig wieder legt. Einen Trank müsste es geben, der stante pede zu kluger Nüchternheit führen würde. Wissenschaft, mit Tadel in der Stimme sei dir gesagt: Braue sowas zusammen. Nicht ohne Grund fällt diesem vor-vorletzten Tourtagebuchsatz ein leicht klagendes Vibrato anheim. Wenige Stunden später findet sich Prumskis Erbe in der Notaufnahme wieder, kann diesen unheiligen Ort aber nach graziler Wundversorgung wieder verlassen. Im Arztbericht steht geschrieben: Frühe Schnäpschen und die Folgen.

 

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