Public Jubeling (391)


Kälteschock im Juni. Um satte zwölf Grad sanken die Temperaturen in der vorvergangenen Nacht. Glaubt man den Katastrophenforschern, scheint die Versteppung ganzer Landstriche, scheinen Durst, Hunger und Not mit dem aufziehenden Regen fürs Erste ad acta gelegt worden zu sein. Weil gut zweikommafünf Wochen lang die Sonne schien. Man mag sich kaum ausmalen, was sich wiederum Katastrophenforscher ausmalen, wenn die Sonne (wohlgemerkt an der Schwelle zum Sommer) satte dreikommafünf Wochen lang fett zu scheinen geruht? Wüste Gobi droht Brandenburg zu erreichen? Letzte Oase: Cottbus? Auch im Industriegebiet Halle-Nord hat es ordentlich geschüttet.

 

Trotz alledem: Eine Flucht vor dem Regen ist es nicht, die den Doctoren-Tross hertreibt. Obschon Leipzig an diesem Wochenende wirklich keinem zu empfehlen ist. Über zwei Tage lang immigrieren 80.000 Flüchtlinge Open Air zu den Pendants der Lieben Tanten. 84.000 suchen Trost und Heimat bei Helene Atemlos Fischer. Großstadtflair hat seine Tücken, der sympathische Nachbarort Halle ist manchmal sehr zu beneiden. Smiley.

 

Nun, Matthias und wer noch feiern dort Geburtstag. Genauer: in der Kulturhalle an der Döckritzer Straße, im Industriegebiet Nord. Das immer verrückter werdende Navigationsgerät (neulich hieß es noch A14, jetzt: Autobahn eins-vier) meint es insgesamt gut, wählt den schnellsten Reifentöterweg über Panzerstraßen und Kopfsteinpflaster und führt den BMW gerührt und geschüttelt ans Ziel.

 

 

Sogleich wird die Bühne bebaut, soll doch vorm Konzert das erste Schicksalsspiel der „Die Mannschaft“ geheißenen deutschen WM-Elf gegen Schweden über die Leinwand flattern.

„Komisch“, sagt Pichelstein. „Schweden ist doch schon Weltmeister.“

„Ja, beim Eishockey,“ insistiert Makarios. Das ist Fußball.“

„Ach!“

 

Routiniert basteln die Doctoren am Sound. Testhörer Fürst Fedja reckt nach kurzer Weile den Daumen in Topmanier in die Luft. Wird auch Zeit, denn am Smoker draußen wendet man Schaschliks. Die Salatbar ist bereits überproportional befüllt und steht der Schnapsbar in nichts nach. Es wird geschmaust und dann Fußball geschaut. Unfassbare Dinge geschehen, die einen ratlos durch den Raum wandern lassen. Schweden führt nach einer Flanke des Greifswalders Toni Kroos 1:0. Verhunzter Mist! Marco „Was soll ich mit dem Führerschein?“ Reus stolpert den Ausgleich über die Linie. Jérôme „Imelda Marcos“ Boateng, der Mann, der angeblich 650 Paar Schuhe besitzt, fliegt gelbrot vom Platz. 95. Minute. Die Stimmung in der Kulturhalle ist am Boden, Deutschland zu diesem Zeitpunkt aber sowas von raus aus dem Kreis der Achtelfinal-Aspiranten. Ein Doktor spricht mit einem Hauch von Traurigkeit zum anderen: „Sieht ganz so aus, als müssten wir gleich nur Balladen spielen.“

 

 

Doch! Sekunden vor Schluss kennt der Jubel keine Grenzen. Bindegewebe verbindet! Die Doctoren pusten Luft nebst Grillbröckchen von den Backen durch die Zähne. Der Abend, an dem Toni Kroos aus der DDR das 2:1 gegen Schweden schießt, findet seinen krönenden Beginn im gleich danach folgenden Konzert der Russian Doctors. Das Public Jubeling geht nahtlos weiter mit glücklichen Gesichter, mit Cheerleader-Kindern, die jeden Song in der ersten Reihe vergolden. Bis manche von ihnen erschöpft, direkt vor einer PA-Box, auf Iso-Matten gebettet werden. All das ist wahrlich herrlich anzusehen, man wünscht es sich viel öfter. Danke an dieser Stelle! Auch sonst: Niemand sitzt mehr, schließlich ist das hier keine Justizvollzugsanstalt. Doctoren auf der Bühne, Bulbash in der Blutbahn: Was kann es schöneres geben? Pichelsteins Finger platzen vor Speed, Makarios‘ Stimme donnert mit voller Wucht und Elan durchs Industriegebiet. Zwei Stunden später, auf eine Pause wird verzichtet, hält der Wind den Atem an. Draußen tröpfelt es aus Wolken-Prostatae heraus und nach der letzten Zugabe plus Schnapsbar ist das Konzert zu Ende gespielt. Oder so: Aus, aus, aus, das Konzert ist aus. The Russian Doctors sind Weltmeister!