Russian Doctors-DNA im Blut (400)

 

Das erste runde Bühnenjubiläum außerhalb Leipzigs. Und wo findet es statt? In Chemnitz! Nachdem eine wirklich dumme Geschichte das ehemalige FlowPo an der Brückenstraße dauerhaft zum Erliegen brachte, öffnete vor wenigen Wochen das beXstage an selber Stelle. Von innen betrachtet, eine hochambitionierte Angelegenheit. Alles ist neu, und damit soll nicht bloß „neu gestrichen“ gemeint sein. Rauchen darf man nicht mehr, und wer doch eine hausordnungswidrige Kippe befeuert, löst stante pede Löschzugalarm aus. „Die Melder sind diffus ins Mauerwerk gepflanzt worden, wo, das weiß keiner genau,“ erörtert der Club-Staff den Doctors gleich zu Anfang. Darauf ein Carlsberg, zwei Drinks und eine Lupe für den Veranstaltervertrag. Vorweggenommen: alles wurde zur größten Zufriedenheit gelöst, das Dorint-Hotel um die Ecke hatte noch drei Zimmer frei und Mikros und Stative, klar, die hat man immer dabei. Smiley.

 

 

Man träumt als Alltags-Rebell so vor sich hin und zack ist es Winter. Schmerzhaft brennt sich (mit einer gewissen Wehmut) drum alle Jahre wieder dieser eine Gedanke ein: Verdammt, wir leben auf der falschen Seite der Alpen.

 

Im Erzgebirge liegt Schnee, viel Schnee. Und da Chemnitz bei weitem nicht zum Erzgebirge gehört, liegt auch in Chemnitz so viel Schnee wie im Erzgebirge. Mit Schmackes fuhr man eben noch hindurch, durch den Schnee, nicht durchs Gebirge. Bis der BMW in der Tiefgarage verschnaufen durfte. Sein Fahrer, Fürst Fedja, eilt an diesem Tourwochenende der Zeit hinterher, mehr noch, er versucht sie zu überholen. Egal, was man probiert und noch probieren wird: Immer wird man letzter sein, völlig abgeschlagen hinten liegen. Sei es vorm Knödelteller, sei es vor der Bulbash-Flasch‘, oder sei es auf dem Weg zum Hygieneporzellan. Auch jetzt staunt Doctor Pichelstein nur, wie gottbefohlen rasch Koffer um Koffer auf die Bühne getragen werden. Doctor Makarios betrachtet das ganze kurz wie einen zu rasant ablaufenden Zeichentrickfilm, bevor es zurück ins Zelt zum Rauchen nach draußen geht. Vermutlich spinnt der Erzbischof in spe dabei ein Zitat John Steinbecks zusammen: „Man verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will.“ Doctor Pichelstein zieht derweil im Geiste einen Titel aus Prumskis "Vermächtnis an die jungen Damen im Kolchos Rote Rübe" hervor. Er lautet: „Zu fett fürs Ballett.“ Es gibt wenige Charaktere in Pratajevs Gefolge, die die Welt so kunstvoll boshaft beobachteten wie einst Anatoli Prumski.

 

 

Weil es so sehr schneite, erreichen nicht alle fleißigen Nimmt-an-der-Veranstaltung-teil-Facebook-Nutzer Chemnitz und warten in Landstrichen wie Brandenburg und Thüringen vergeblich auf eine Liveschalte. Das ist nicht schlimm, das ist nur schade, und Strafe kostet es auch nicht. Obwohl Facebook eine tolle Einnahmequelle mehr hätte, wenn all jene, die sich für ein Konzert anmeldeten und dann aus irgendwelchen Gründen unpässlich sind, einen kleinen Obolus zu entrichten hätten. Frech wäre es - und dreist, das wollen wir nicht. Umso erstaunlicher, dass trotz des Schnees viele durchkommen. Nach dem Soundcheck ist der Barlounge-Bereich bestens gefüllt. Der Club-Staff ist völlig von den Socken: „Zwar nicht pickepackevoll, doch ihr habt die bisher beste Auslastung erreicht.“ Das hört man gerne und möchte sich milde betäubt zurücklehnen. Doch nein. Voller Erlebnisgier geht’s für die Docs nach Pizza und Intro auf die große Bühne, die wie ein Strahl von 100 bunten Opferkerzen über einem Pratajev-Gedächtnisaltar leuchtet.

 

 

Fürs 400. Konzert werden die Lieder völlig neu durchgemischt. Eine Zeitreise wird’s, der allererste jemals live gespielte Titel „Da hält der Wind den Atem an“ liegt vorn im Set, schmiegt sich an „Die schöne Welt“, an „Mich wundert gar nichts mehr“, an all die unverwüstlichen Zeugnisse pratajevscher Ehrenwürde an. Der 2003er-Schneeball wird schließlich zur heißumfeierten Hit-Lawine und Romy hat Geburtstag. Die Lichtenstein-Fraktion, die KMS-Freunde und viele mehr toben in luftschnappender Verzückung, im Taumel einer Pratajev-Mania, durch den Saal. Sie haben Russian Doctors-DNA im Blut, keine Frage. Fürst Fedja, der rasende Teufelskerl, jongliert dazu mit vollen Wodkagläsern und so vergehen die Stunden rund um die Bühne. Zweikommafünf davon werden live gespielt, den Rest von der Uhr verbrennt eine durchfeierte Nacht. Und als am Schluss der Club-Staff allen ernstes sagt: „Ihr müsst das Backstage im beXstage bitte leertrinken, die Getränke sind bereits ausgebucht“, fällt einem nichts mehr ein. Außer, dass dreimal Frühstück im Dorint gebucht wurde. Für den nächsten Morgen, doch der ist noch ein wenig hin. Und als sogar der eilige Fürst Fedja zur zungeschnalzenden Ruhe kommt, da weiß man: Das Leben von der Wiege bis zur Biege ist gerecht und schön.