Unterm Orion (403)


Angeblich spielt ja das Februar-Wetter verrückt. Bloß weil die Russenpeitsche erst gegen Abend zuschlägt und man sich tagsüber nicht durch Schneewände graben muss. In Dresden-Weixdorf sind es bei Ankunft der Doctors knapp über null Grad, am nächsten Morgen wird die Gegend mit einer knackigen Eisschicht bedeckt sein, eine kalte, klare Nacht ihr bestes dazu beigetragen haben. Winter eben, nicht jeder Teich muss gleich zugefroren sein. Quakende Frösche, zirpende Grillen unterm Orion? Nö. Dafür rauchende Doctors in dicken Mänteln. Am liebsten würde man gleich mit meterlangen Schaschlikspießen aus der Küche ins kulinarische Gefecht ziehen, doch wie heißt es so ungerecht? Erst die Arbeit, dann volle Teller. Und so wird geschleppt, geackert, bis der Klang perfekt ist. Gerade als die ersten Gäste am Begrüßungswodka nippen, ist das letzte Soundcheck-Liedchen verebbt. Da die Doctors, außer bevor es ins Tonstudio geht, nie proben, ist meist der Soundcheck die Probe. Alte Kamellen, lange nicht mehr gespielt, und frische Bonbons reichen sich brennende Hände. Fürst Fedjas Job besteht zu diesem Zeitpunkt darin, den Tonmeister zu mimen.

 

Makarios: „Soll die Gitarre lauter?“

Fedja: „Nein! Leiser, ein ganzes Stück.“

Pichelstein: „Okay!“

 

Der Gitarrist dreht am Regler. Und kurbelt ihn nach oben. Ein wenig. Gitarristen sind so, jede Band kennt sie. Sie wollen immer die lautesten sein. Da frage sich noch einer, warum Doctor Makarios nach Konzerten immer so schön heiser ist. Genau. Weil ein Sänger zumindest einen µ (Mü) lauter als eine Gitarre sein muss. Alles andere wäre kaum im Sinne des Publikums.

 

 

Bald ist der Saal voll, dicht besiedelt sind Stühle und Tische. Alt und Jung hocken nebeneinander, das Ganze gemahnt an ein russisches Dorffest, in dem bald der berühmte Bär steppt. Fehlt nur noch Tschaikowskys 1. Quartett dazu, oder? Nein! Die Russian Doctors fehlen, dann ist alles perfekt an diesem Freitagabend. Sie stehen am Eingang, verkosten Rum, Gin, Bulbash und lassen sich zwischen Tür und Angel fürs diesjährige Dresdner Hechtfest verpflichten. Booking kann so einfach sein. Darauf noch einen, ja was denn? Egal. Nastrojve! Juhu, mit Schmackes hinein. Und noch eine rauchen, zum Orion hochblicken, Sterne schauen.

 

 

Wenig später: die eben noch Sitzenden haben sich größtenteils erhoben, einige ältere Semester pöbeln, sie wollen auch was sehen. „Bei Konzerten sitzt man doch.“ Ein Argument, das bei den Doctors nicht zählt.

Pichelstein: „Eins, zwei, drei, vier …“

Makarios und Pichelstein: „Da hält der Wind den Atem an …“

 

Los geht er, der Ritt durchs Pratajev-Universum und alle haben sich wieder lieb. Oft sträflich vergessene Titel rasen gleich zu Anfang durch den Saal. Cottbusserinnen wippen darunter mit den Hüften, Berliner Bären reißen Arme in die Lüfte, Dresdner und Innen tanzen gottbefohlen um die Schnapsbar. Textsicher und wunderbar. Mit leuchtenden Augen wie der Strahl von Millionen Sternen. Angenehm betrunken geht es in die Pause. Für 17 brandenburgische Minuten. Es ist Poesiezeit, Zeit für Zeilen aus: „Prumskis Erinnerungen an Pratajev.“

 

Pratajev betrat eine Bühne

Schon nach wenigen Minuten

Vollzog sich eine kollektive Übertragung:

Alle, vom kleinsten Kind bis zum ältesten Mütterchen, wollten so sein wie er

Schlagfertig, belesen, betrunken und intelligent

Stets war Pratajev umgeben von Menschen

Die ihm Gutes wollten

Die alles für ihn getan hätten

Weil sie wussten

Dass so einer nicht wiederkommt

Pratajev schien für sie unbesiegbar

Und erwiderte derlei Zuneigungen hemmungslos

Er musste sich nicht verstellen

Vor den Leuten war er ohne jeden Dünkel und ohne jede Scheu

Endlich war da einer

Der etwas Gutes nicht nur versprach

Sondern auch verschenkte

Der das Glück in Worte kleidete

Nur ein Beispiel:

Es gibt so viel Übles, so viel Banales auf der Welt

Lasst uns diesen Mist jetzt vergessen

Lasst uns trinken, feiern, lachen

Und überhaupt

Wieso ist mein Glas schon wieder leer?

 

 

Zurück auf der Bühne stellt sich diese Frage nicht. Nach jedem Schnapslied lockt der Nachschub, geht’s weiter im Set. Fürwahr, sogar eine Luxusbiene ist wieder dabei. Aus schwarzer Nacht hört man von draußen die Weixdorfer Rüsselhunde bellen und das Laub der Sträucher rollt sich vor Kälte zusammen. Wie schön, dass der Ofen heizt, man drinnen ist und … verdammt … die Zugaben immer näherkommen. Soll das heißen: „Das war’s für heute, Doctoren? Nicht noch eine Schnapsbar? Eine Tasche-auf-Tasche-zu? UND: Was ist mit HACK?“

 

Alles wird erfüllt. Nach so drei Stunden muss es gesamtgesehen gut sein für heute. Herrlich. Vor Rührung tropft Fürst Fedja sogar schon aus der Nase.