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Kategorie: Tourtagebuch
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Nowitschok! (389)

 

Donnerstag, halb fünf in Leipzig. Die Russian Doctors schauen sich ein Fußballspiel an. Und was für eins: Russland gegen Saudi Al-Arabien. Dazu wird Bier gereicht, fehlt nur noch eine Schale, aus der man Kekse klauben kann. Vorher wurde der Plagwitzer Westbahnhof zu einer WM-Enklave gestylt, zu einer Pilgerstätte für den besonderen Livestream-Fan (Handys aus, sonst bricht die FIFA-Flatrate zusammen). Besonders die Auswahl stramm von der Decke hängender Mannschaftsflaggen lässt auf satten Augenweiden Gras wachsen: Angola, Nordkorea, Mozambique usw. Allesamt an fiesen WM-Hürden gescheitert.

 

VB

 

Kurzum: Der Westbahnhof ist jetzt eine Sepp Blatter-Arena. Die Spiele der WM 2018 werden live und schonungslos mit stimmlichen Glockenklängen begleitet. Denn: Weil der Mensch gut informiert werden wollte, schuf der Fußballgott den Kommentator. In den Westen Leipzigs entsandte er die Herren UwÖ Salisbury Brückner und Matthias Iljitsch Uhlitsch. Sie schnabulieren süßen Krimsekt und natürlich fließt im Publikum jede Menge Bulbash Wodka. „Nowitschok!“ (das neue „Na sdorowje“). Lieferant Don Kosak Förster huscht Freude darüber ins Gesicht. Makarios und Pichelstein, noch von einem schalen Senfwind umweht, waren bereits weitschweifig fleißig. Die Bühne steht, losgehen kann das heutige Konzert nach dem fünften Tor für Russland. Noch steht es 3:0, noch hält der Tipp des Makarios. Lange schon ist Fürst Fedja draußen. Dem Team aus 1.001ner Nacht einen 1:0-Sieg ans Bein zu flicken, war doch recht mutig gewesen.

 

Tja, die WM in Russland. Im Reich des Bösen. Zu gerne würde Verteidigungsministerin Ursula Gertrud von der Leyen mit gepanzerten Leoparden einfallen. Das blondgestrichene Haar im Wind und eine großkalibrige Junikäfer-Sonnenbrille dabei auf der Nase. Denn der Russe ist böse, rassistisch, fügt Schmerzen zu, und will der restlichen Welt ein Blutbad aufzwingen. Nur auf dem Planeten Wobani, im Mittleren Rand der Galaxis, geht es beileibe noch schlimmer zu. Der Russe säuft aus Schweinetrögen abgestandene Schnaps-Lorken und stürmt mit einem Messer, ach was, mit einer Axt zwischen den Zähnen auf Westeuropa zu. Puff, das war’s mit der Zivilisation. Darauf einen Wodka und „Nowitschok!“ gerufen. „Auf die Familie!“ Tja, und potzblitz ist WM. Alles ist friedlich, die optische Frauenschwarmtäuschung Robbie Williams auf Koks, und dennoch wird man sagen: Kalkül, Manöver, potemkinsche Dörfer.

 

AS

 

„Uschi Gertrud, schmeiß den Leo an!“

„Geht nicht, der fährt mit Diesel, überall Umweltzone Euro-Norm. Die Grünen! Die Grünen!“

„Nimm den E-Panzer!“

„Der ist nicht geladen, Braunkohle weg. Die Grünen! Die Grünen!“

„Von wegen! Die Roten! Die Roten! Da ist der Russe schuld!“

Glücklicherweise! Und die Grünen! Die Grünen! So fällt der nächste Weltkrieg aus. Kleiner Exkurs. Aber nun, das Konzert der Doctoren, darum soll es eigentlich gehen.

 

as

 

Während das Volk auf Bänken verharrt, vereinzelt noch gegen die Plaste-Torwand geballert wird, schleicht sich der Rotarmist in frisch geputzte Gehörgänge und schon kommen die Pratajev-Goldstandard wie aus der Kalaschnikow geschossen. Wirkliche Höhepunkte: Eine weiße Plüschratte fliegt auf die Bühne (toll! Das gab es noch nie), Kleinkinder tanzen zu „Tote Katzen im Wind“ (toll! Eigentlich fangen Kleinkinder bei diesem Lied immer an zu weinen, oft schon erlebt), gewünscht wird im Zugabenblock die „Pferdelunge“ (toll! Warum will diese Weise sonst kaum einer hören? Running Doc Pichelstein braucht ab und zu eine Ballade, sonst kann er während des Spielens weder rauchen noch trinken) und zu guter Letzt: Schnapsbar! (toll! Muss Erwähnung finden, da es jetzt erst gegen neun Uhr am Abend ist). Drei reichlich Trunkene schaffen kaum mehr den Weg an die frische Luft. Merke: viel Wodka macht den Abend kurz, wenn es nichts zu essen gibt. Keine Grundlage, nur eine Schale Kekse. Und so war es von vornherein geplant.