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Kategorie: Tourtagebuch
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Soo, Ihr Landratt'n! (397)

 

Tock Tock Tock. Ein Gewirr loser Traumschnipsel. Gefangen in einem Naturfilm. In der Hauptrolle Grün- und Schwarzspechte, die emsig an Bäumen nach Käfern klopfen. Borkenkäferplage! Tock Tock Tock. Und dann singt Rio Reiser davon, dass der Traum angeblich aus ist. Frechheit. Genau genommen steht Doctor Makarios im Zimmer und ruft das Unvermeidliche: „Wach werden Jungs, das Frühstück schließt in 20 Minuten.“ Fürst Fedja präsentiert rund um die Augen Olympische Ringe, Doctor Pichelstein hustet sich vor Schreck die Seele aus dem Leib. Im Geheimen denkt er: „Sonnenbrille aufsetzen, ohne Kamm im Haar und fester Hose, nur im Schlabberlook, die Zähne ungeputzt. Genauso sich den anderen Gästen im Frühstücksraum zum Geschenk machen. Warum nicht gleich im Bademantel? Zeichensetzen gegen das Unheilvolle. Hashtag? meeToo!“

 

 

Eine gute Stunde später wird die Anlage am Pleitgeier2 ins Auto rückverladen, es lockt die Ostsee, locken Strände, Steine, lockt feistes Herumlungern. Stinknormale Tätigkeiten dürfen zum Genuss veredelt werden. Pichelstein besaitet die Erlenholzgitarre gleich mal in der Mittagssonne. Der anschließende Weg nach Bad Doberan ist nicht weit, umso mehr verführt der Zauber des ständigen Rastens. Ein Fischbrötchen hier, ein gesundes Heißgetränk dort. Liebe Zeitmaschine zwischen den Konzerten, bleib stehen! Und immer wieder, man kommt nicht umhin, heißt es: Landschaft und Leute begucken. Ein schickes Vergnügen, es ist zum poetisch werden. Doctor Makarios bewundert schäkernd der Sonne helles Licht, das sich durchs Geäst herbstlicher Bäume bricht. Fürst Fedja spricht in rührender Eloge über zwei verträumte Radfahrer, die den Weg zu sich selbst gefunden haben. Nein, Unsinn. Streichen wir den letzten Satz. Im O-Ton klingt das so und nicht anders: „Habt Ihr diese potthässlichen Radfahrer gesehen? Meine Güte! War das jetzt gehässig?“

 

 

Am Nachmittag ist Bad Doberan erreicht. Höchstpersönlich umsorgt vom Chef der Weinhandlung Schollenberger werden VIP-Bänder übergeholfen, es darf bequem im Doberaner Hof eingecheckt werden. Dass man von hier aus mit einem Kirschkernspuckversuch die Kulturnachtbühne erreichen kann, ist ein besonderes Pläsier. Auch wenn die Kirschen um diese Jahreszeit bereits alle zu Marmelade und Schnaps verarbeitet wurden. Augenblicke später ruft Techniker „Leiche“, den man getrost so nennen darf, da der Nickname seit frühster Jugend Programm ist, zum gehaltvollen Sound-Rapport. Danach folgt Kaffee zum Kuchen. Die Süße kaum verdaut findet man sich im Hotel wieder, und zwar vor einem opulenten Buffett. Jetzt, ja jetzt möchte man ruhen, liegen und einen Schießfilm gucken. Letzteres klappt nicht. Schießfilme haben gegen 18 Uhr allemal Ruhepause, an sportschwierigen Samstagen gibt es immer „irgendwas mit Hitler“, Steaks und schönste Weinberge. Sofern man nicht auf der Fernbedienung ausrutscht und sich das Elend ins Zimmer holt. Das geht schneller als gedacht. Kostprobe: „Sie verbringt ihre Tage mit Rauchen, trinken und dahinvegetieren. Einer Arbeit möchte sie nicht nachgehen. Und Mühe, sich um eine zu bewerben, macht sie sich auch nicht wirklich. Lediglich ein einziges Mal hatte sich die junge Frau auf eine Stelle als Verkaufshilfe in einem Supermarkt beworben. Trotz oder gerade wegen einer handgeschriebenen, vier Sätze langen Bewerbung entschied sich der Chef dann doch dagegen, Carola einzustellen …“ (Quelle: RTL2).

 

 

Ach, Carola. Rauchen und trinken ist ja okay, aber dahinvegetieren? Kommt nicht in Frage, das ist schändlich. Wer mit umgeschnallter Pampers dahinvegetiert, verpasst die tollsten Konzerte. So wie das heutige. Eben erklimmen Möwe & die Ölmützen („Soo, Ihr Landratt'n!“), ungefähr zu zwanzigst, die Kulturnachtbühne und der rappelvolle Alexandrinenplatz kocht. 500 Menschen stehen sich in den Schuhen, Bulbash-Drinks, Bierbecker und Rauchwaren in der Hand. Kinder mit gebastelten Laternen springen, dank undichter Ventile am Getränkestand, durch künstliche Wasserpfützen. Mit einem Mal sind die Pfützen viel interessanter als die Laternen, schöne Mütter verzweifeln, doch dann legen Möwe & die Ölmützen los. Unfassbare Klassiker, die meisten mit einer zünftigen Gitarre unterlegt, donnern durch den Abend. Pichelstein erklärt die Kassierer-Shanty-Version „Wirtshausschlägerei“ zum Kult. Makarios kriegt die Torfrock-Variante der „Butterfahrt nach Dänemark“ nicht mehr aus den Ohren raus. Nach der Zugabe möchte man „Da capo, da capo!“ rufen, doch die Arbeit ruft.

 

 

Techniker Leiche verkabelt dies mit jenem, schon läuft das Intro. Eine Welle Depot-Bulbash fließt Pichelstein direkt ins Gaspedal hinein, das sich bei sehr schnellen Gitarristen in der Plektrumhand befindet. Kein Bass, kein Schlagzeug in Sicht, keine Metronom-Bremse. Makarios hält bei der Rallye Pichel-Dakar tapfer mit, die Stimme überschlägt sich fast, bis ein „Mein Doctor, mein Doctor, nicht so schnell“ den Gitarristen irgendwo zischen dem „Starken“ und „Löffel aus Holz“ zur Räson bringt. Der Platz strotzt vor Begeisterung, Trunkene und nicht minder Trunkene liegen sich in den Armen, es wird gesungen, gehüpft. Fürst Fedja hat Mühe, Feuerwassertabletts unverkippt zur Bühne zu tragen. Nach knapp einer Stunde schlägt der Schnapsbar-Gong zur Pause. Pichelstein sieht im schicken Ginhead-Shirt so aus, als hätte er eben ein Achterwasser durchschwommen und dabei einen Hering verschluckt. Würde Fürst Fedja hingegen ein Achterwasser durchschwimmen, käme das überhaupt nicht in Frage. Schuld daran ist ein Kindheitstrauma. Irgendwer muss dem Wodkartell-Baron mal einen schlecht schmeckenden Fisch als Nougat-Ersatz aufs Rosinenbrötchen gelegt haben. Seitdem ist es mit dem Verzehr von Rosinen auch vorbei. Und es gibt nur noch Steaks, lecker Steaks auf gebackenem Weintraubenteig.

 

 

„Da hält der Wind den Atem an“ kommt als Opener für Runde zwei wie gerufen, Makarios pickt sich Pratajevs schönste Weisen aus dem Repertoire. Und das ist lang! Man könnte mehr als vier Stunden durchspielen (und hätte immer noch Valenzen). Man könnte, aber man will nicht. Wer soll das überleben? Neue Stimmen und Finger kommen eben nicht aus 3D-Druckern geflogen. Bad Doberan erlebt noch einen gelungenen neuen Weltrekord auf der Akustikgitarre. Angepeitscht vom Publikum schafft Pichelstein satte 156 Anschläge pro Minute bei der „Harten Wirtin“. Wow. Und diese drei unschuldigen Buchstaben dehnen sich bis zur letzten Schnapsbar aus. Dann muss es gut sein. Der „intellektuelle Kneipen-Punk aus Leipzig“, wie ihn Plakate landauf, see-ab ankündigten, ruht. Doctoren liegen sich in den Armen. Bühne frei für die Pokes, Berlins No. 1 Folkpunkband. Bisher glaubte man immer, es kann nur die „Dropkick Murphys“ geben, doch weit gefehlt. Denn es gibt die Pokes, und gerne würde man beide Combos einmal live spielen sehen.

 

 

Der nächste Tag: Nach dem Frühstück verharrt eine alte Dame bei rollkofferschwangerer Hotelabreise entrüstet an den Zimmerbalkonen der Doctors. Soll sie was sagen? Ja, es treibt sie um, sie schnauft tief. Wenn sie's jetzt nicht sagt, nimmt sie's mit ins Grab. Oh weh.

„Um vier Uhr früh wurden wir von EUCH geweckt, um vier Uhr früh!“

„Um vier Uhr früh haben wir geschlafen,“ erklärt Makarios lakonisch. Was wirklich stimmt.

„Nun machen Sie nicht so ein Tamtam. Dieses Szenario haben Sie sich ausgemalt und Frank Zappa ist unser Zeuge“, könnte Pichelstein rufen. Doch dass Frank Zappa „unser Zeuge“ ist, weiß er zu diesem Zeitpunkt gar nicht. Erst als Henri vom Schollenberger-Team draußen auf eine unscheinbare Büste deutet, wird gewahr, dass vorm Hotel ein Zappa-Monument verortet ist. Vor Ehrfurcht hört man, wie die Luft sich durch alle anwesenden Nasen bewegt. Ein und aus.