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So plötzlich! (227)


Seltsam. Geruhte eben noch die Sonne recht kräftig aufs Autodach zu scheinen, gewinnen aktuell unwetterartige Wolkenmassen aus Richtung Großenhain die Oberhand. Während Doktor Pichelstein nassen, autobahnigen Wetterlaunen - mit Vollgas vorbei an mäandernden LKW-Wänden - zu entfliehen versucht („Schnell weg hier, mein Doktor, das gibt bestimmt gleich einen Tornado, rechts hinter uns ist alles pechschwarz“), treibt das Wolkenungeheuer bereits tropfschwere Blüten. Was bleibt einem da in Zeiten viel beschworener Klimawandelei? Heimatsender einschalten, Schlager hören und beizeiten sogar mitsingen. Schade nur, dass es das berüchtigte Leipziger Duo, Geheimtipp für jung, alt und den Rest der Familie, Svenni & Holgi („Weine nicht, kleiner Bär“) immer noch nicht in die honorigen Playlisten von Radio Antenne Sachsen geschafft hat. Ein wenig Liedgut aus dem Repertoire: „4 Jungs auf der Autobahn / wollen schnell nach Hause fahren / denn da wartet die Liebste / hat schon viel geweint (…)“.

 

Bis Dresden geht das so. Das Blaue Wunder ist das Nahziel und der durstige Wunsch nach einem leckeren Bier an diesem Freitagabend, dem insgesamt mittlerweile 8. Elbhangfest für die Russian Doctors, greift immer mehr um sich. Dann wird ausgestiegen, ist die Alte Feuerwache erreicht, verursacht das erste Rothaus glühende Bäckchen. Ganz so wie’s Flaschenetikett verspricht.

 

Die Bühne steht bereits, nur der Regen hört nicht auf, doch übers andere Elbufer ziehen bereits lichtere Wolken verlockende Bahnen. Nach dem zweiten Kaltgetränk ist plötzlich wieder Sommer. So schnell kann’s gehen. Der Merchstand leuchtet, der Soundcheck ist getan, die ersten Gartengäste werden geschüttelt und gerührt geht man zum Handschlagwerke über. Schön! Doch dann die erneute Apokalypse: Noahs Arche, Weltuntergang, Reg dich nicht auf (wenn es mal regnet), Elbeflut, das 7. Zeichen – Doktor Pichelstein geht derlei vieles durch den Kopf, als Platten, CDs und Bücher flinker Hand zurück in Kisten gestopft werden, als grobe Hagelkörner gestandene Bierbecher umstoßen, als Setlisten von der Bühne fliegen und der Sturm am Dache reißt. Dann die Erlösung: Ein doppelter Regenbogen zieht auf und mit ihm schallt’s Intro der Russian Doctors durch die Höhen und Tiefen des Elbtals: Es ist unheimlich hart, der Beste zu sein…

 

 

Beginnen die „Feldmänner“ noch im strömenden Herbstregen, setzt bereits vier Pratajev-Weisen später das blauhimmelige Sommeridyll wieder ein. Und so geht’s dann weiter, wild und heftig. „So plötzlich“, wird gerufen. Immer wieder. Gemeint ist damit das Lied über die Gefrierkatastrophe von Bolwerkow aus dem Jahr 1960. „Man registrierte einen Temperatursturz von +12 Grad Celsius auf -38,2 Grad Celsius innerhalb von 24 Stunden. Das Gefriergebiet hatte eine Ausdehnung von zehn Kilometer nördlich, 2,5 Kilometer südlich, 1,9 Kilometer westlich und 4,2 Kilometer östlich – vom Bolwerkower Dorfplatz aus gesehen (…)“ weiß das Große Pratajev-Lexikon darüber zu berichten. Oft wird in der Folge also „Als das Eis kam so plötzlich“ gespielt. Nur die „Schnapsbar“ toppt keiner, die gibt’s vor jedem Zugabeblock – und bis auf wenige, zum Teil nahezu vergessene, somit kaum mehr spielbare Titel aus dem Repertoire Pratajevs, wird das Große Pratajev-Liederbuch, komplett gespielt. Recht rasant, möchte man meinen, und irrt damit keineswegs. Selbst als der allerletzte Schlussakkord längst verklungen ist, entsprechend schöne Dosenmusik bereits an Langmut gewonnen hat, sollen die Doktoren – mitten im Publikum - unplugged weiterspielen. Es gibt noch „Der edle Mann“ – und nein, das Kanapee mit dem Girl drauf, das klappt dann keineswegs mehr. Zurück auf der Bühne bleiben leere Schnapsfläschchen, Geschenke des Fliehenden Sturms, einst gefüllt mit Kräutern aus dem Wald. Du meine Güte, was für ein Abend. Sehr vielen, vielen, vielen Dank dafür!



 


Fotos: SEBsixsixsix