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Hall, Halle, Halleluja (405)

 

Auffallend ist an diesem Spätnachmittag eindeutig die Höflichkeit der Navi-Dame. Das haben die Doctoren auch schon ganz anders erlebt. Nur wird das R heute gerollt, als bestünde der Weg in die Derby-Stadt Halle aus einem Rock and Roll-Paternoster. „Rrriebeckstraße, Rrrrackwitzerstraße …“ so geht das in einem fort bis das Ziel, der Kaffeeschuppen an der Kleinen Ulrrrichstraße 11, erreicht ist. Ob die Navi-Dame mit der Zunge im Stacheldraht hängengeblieben ist? Nein, dann würde sie lispeln. Es soll ja auch lispelnde Wegweiserinnen geben, wie ein SUV-Forum verrät. Das Forum der Präriefahrer, die sich mit pupsenden Kuhpanzern in die Städte verirren. Sicherlich gibt es auch Wegweiserinnen, die nur Gebärdensprache können, ergo: sehr schweigsame Zeitgenossinnen sind.

 

Eine Pause von Zuhause. Während in Leipzig Buchmesse ist und gut 300.000 Menschen dem „Sog der Worte“ folgen, gastiert der Pratajev-Tross also in Halle. Dafür sind Nachbarstädte prädestiniert. Man fährt hin, wenn es zuhause ungemütlich wird. Mal eben schnell in die Leipziger Innenstadt, um einen Milchkaffee zu schlürfen? Keine Chance. Die Buchmesse ist ein viertägiger Weihnachtsmarkt mit dichtem Gedränge von der Neuen Messe bis zum Lindenauer Hafen. Man steht sich, man liest sich quasi in den Schuhen und trägt dabei ein Kleid aus Buch. Kulturell wertvoll, zweifelsohne. Toll, Bücher, super, auch Lesungen, all das. Oft genug traten die Doctors im Buchmesse-Rahmen auf, spielten Konzerte vor der Wurstabteilung im Marktkauf, im Artpa, im Kunstgeist, in der Naturbäckerei, mit Konstantin Wecker in der HGB. Nicht zu vergessen, tata, wo fand das allererste Konzert vor 16 Jahren statt? Genau. In der naTo. Zur Buchmesse. Doch heute ist man irgendwie froh, dem ganzen Bohei entfliehen zu können. Drum nichts wie raus an die Hallenser Schnapsbar. Schnapsbar geht schließlich immer. Wer noch nie in Halle war, der besuche bitte den Kaffeeschuppen und verkoste irische Kaltgetränke, Starkbier, Schnitzelteller … dazu die Leckereien der Tank Company, denn das Wodkartell des Fürst Fedja ist um eine Herrlichkeit reicher. Ab sofort wird gepanzert und Doctor Pichelstein erscheint als Role Model auf dem Catwalk zur Bühne.

 

 

Der Kaffeeschuppen ist voll. Kann losgehen, der Techniker hebt den Topdaumen, moderiert die Pratajev-Show an und kümmert sich in der Folge hochkonzentriert um das Leben und Gedeihen der Mischpultknöpfe. Hall, Halle, Halleluja! Da kann jetzt nur der „Rotarmist“ antworten. Das Ambiente verlockte zuvor derart zum Herumhängen, dass die Doctors glatt vergaßen laut über eine ungefähre Liedfolge nachzudenken. Bald wird den Impfgegnern, aka: Seuchenfreunden, ein Denkmal gesetzt, Bald rührt der „Löffel aus Holz“ durch den Schuppen und Wodka, der alte Schlüpferstürmer, wird in gläsernen Kübelchen zur Bühne gereicht. Die selige, trunkene Stimmung ist nicht mehr aufzuhalten. Neue Gäste akklimatisieren sich sofort. Makarios läutet schließlich mit einer ersten „Schnapsbar“ galant die Pause ein.

 

 

Gleich im Anschluss legt Pichelstein nach dem „Lied vom guten Leben“ mit der „Harten Wirtin“ los. Tja, das ist der Yo-Yo-Effekt. Eine Gesetzmäßigkeit, der zufolge sich ein abwärtsgerichteter Trend (beim „Guten Leben“ handelt es sich zweifelsohne um eine Ballade) an seinem Tiefpunkt gleichsam automatisch ins Gegenteil verkehrt. Vergleiche: Diät oder? Blues! Blues ist nichts anders als eingeschlafener Heavy Metal. Kein Yo-Yo-Effekt, immer nur: Bluuuuues. Und Bierglaaaas! Und: "Ritaaaa, ich geh mal eine rauuuuchen, gib mir mal die Kuuute." Kurzum: schon wieder wird ein Weltrekord geknackt. Das Enfant terrible auf der akustischen Schnellgitarre ist für den Rest des Konzertes nicht mehr zu bremsen. Dazu führt Makarios wie ein Bolschoi-Zeremonienmeister durch Pratajevs Themenparcours und die ewigen Fragen in den Zugaben: „Was soll’s sein? Was sollen wir noch spielen?“ werden mit Contenance und einem Gitarren- und Stimmgewitter rechtschaffen beantwortet. Wenn der heutige Abend ein Buch wäre, würde eine verdammt spannende Story mit extravagantem Plot dabei herauskommen. Doch der heutige Abend ist ein Konzert, ein ziemlich verrücktes obendrein. Wohl bekommt’s und Danke, Halle.