Das Navi in den Köpfen (363)


Du lieber Augenöffner! Die Doctoren nächtigten in einer Bauhaus-Bis-Möbel-Porta-Old-Style-Ferienwohnung, in einem Dörfchen vor Wittenberg und nicht in den furchtbehangenen „Bierstuben“. Das ist allemal einen Kaffee wert. Bis vor kurzem muss hier noch wer längerfristig gewohnt haben. Er sammelte Miniaturtrucks und liebte interessante Geschenke in durchgehend flüssiger Form. Traubensaft zum Beispiel. „Wuff“ macht’s im Flur, es stromert eine wilde Horde französischer Kleinsthunde hinein. Eine Hündin trägt Pampers wegen Läufigkeit und die Nase hoch oben. Frei hat sie heute, sonst jobbt die Weißbefellte im Altersheim als Therapeutin. Kein leichter Job und sicherlich gibt’s als Lekkerli bloß in Traubensaft getünchtes Brotwerk. Es folgt ein Frühstück in Familie und schon weist das Navi in den Köpfen des Pratajev-Trosses gen Berlin. Ziel: Rosa-Luxemburg-Platz 1, Volksbühne, großer Luxus für örtliche Verhältnisse: Parkplatz direkt vorm Eingang.


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Kann man das so einfach für sich stehen lassen? Den Parkplatz schon. Aber: Volksbühne Berlin? Nein. Das mit 141 Euro pro Karte am höchsten subventionierte Sprechtheater der Republik. Frank „Konsens ist öde“ Castorf! Christoph Schlingensief! Dimiter Gotscheff! Im Roten Salon: Kat Frankie! Fehlfarben! The Russian Doctors! Nun gut, Castorfs Vertrag läuft im Sommer aus, was der Ära des sogenannten „Rausch, Exzess - und Theaterkraches“ ein Ende bereiten dürfte. Denn wenn sogar in Märchenvorstellungen nur noch in etwa so gebrüllt wird: „Ahhhhh, der Faust-Wolf! Uuuuuuuh, des Teufels Großmutter, Ahhhhh, das Brünhild-Rotkäppchen, Uuuuuu, der Sekt!“ Liebe Güte. Wer will das ohne albzuträumen sehen? Ein neuer Intendant scheint bereits gefunden und um die Subventionen erträglicher zu gestalten (Berliner Hypothek: arm aber schreiend sexy), schließt ausgerechnet der Rote Salon in der Volksbühne ab Juni seine Tore für musikalische Herzensangelegenheiten. Dabei wurde hier nie gebrüllt. Eine Ungerechtigkeit sondergleichen. Ein frisch erblühter, flehentlicher Schmerz konterkariert sich selbst! Man steckt eben nicht drin in dieser epochalen, um sich selbst kreisenden Kulturgranatenlandschaft. Mein Gutster! Mein Gutster? Genau. Zurück zum Navi in den Köpfen. Die Russian Doctors hatten in Familie lecker gefrühstückt und fortan viel Zeit auf der Uhr.


Was kann es schöneres geben, als die Suche nach einer Restaurantstube mit guter Küche? Die Antwort ist einfach: Einen solchen Ort der Hingaben zu finden. Möglichst in einer schönen Gegend, um darin hinterher noch ein wenig zu wandern. Man tausche also: Landstraße gegen Autobahn und so dauert es eine Weile, bis die Brandenburger Gemarkung Teltow-Fläming erreicht ist. Im eiszeitlich gebildeter Höhenzug wird es schon hübsche Stübchen mit Seeblick geben. Dem ist tatsächlich so. Lauter Stuben, viel Wasser. Doch keine einzige Futterkrippe gewährt Einlass. Stubenillusion! Da sage mal einer: „Nach Brandenburg kommen einfach keine Touristen. Die fahren alle an die Ostsee.“ Aber warum fahren sie an die Ostsee? Nun, weil die meisten Restaurants – und die Doctors als Voyeure des Dramas verzweifeln daran: a) wegen Krankheit geschlossen sind, b) zu Unzeiten öffnen oder c) fest in Händen einer geschlossenen Gesellschaft sind. Die Faktoren d-z bleiben außen vor, da ergänze einfach jeder sein eigenes Schicksal. Ein Teller kalter Mitleidssuppe wird an niemanden verschwendet. Und doch gibt es Hoffnung. Jedem Messergabel-Hinweisschild wird mit Fleiß gefolgt. Schließlich (die noch in den USA zu gründende Church of Pratajev-Gemeinde hätte geweint, gesungen, ge-gospelt): Yes we can, Groß-Schulzendorf! Dorfkrug! Zwar parkt eine Autoarmada am Eingang alles zu, aber es gibt freie Tische im Inneren! Es fühlt sich an wie Gott in Russland, also: Adieu Tristesse, hinein. „Mein Gutster!“ Eine ältliche Tüll-Prinzessin schnappt sich unisono den verblüfften Makarios, zieht ihn sich ans Herz und klopft anerkennend des Doctors Pulli platt. Erst als Makarios zu sprechen beginnt, wird ihr der Lapsus gewahr. Das Graulöckchen ist peinlich berührt, dann lacht der ganze Saal, Süppchen und Wildschweine werden serviert. Diese Tiere zu verspeisen, scheint in Brandenburg Pflicht zu sein. Sie richten Schaden an und selbst Jäger heimsen pro Tierchen mittlerweile eine 20 Euro-Abschussprämie ein.


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Glücklich wie die Zwerge nach Schneewittchens Auferstehung geht’s weiter. Pichelstein rezitiert Pratajev: „Das Wildschwein rannte durchs Gedärm und machte dabei großen Lärm“, Fürst Fedjas Mobiltelefon pfeift dazu. Eigentlich pfeift es fortwährend. „Ich krieg es nicht abgestellt,“ ruft es verzweifelt von der Rückbank. Makarios‘ Antworten leichter Lösung sind in derlei Gemengelage bekannt: „Dann wirf‘ es aus dem Fenster.“ Es darf bleiben und pfeift wie ein Vöglein munter bis zur Volksbühne weiter.


Jeder auf seine Weise verbeugt sich innerlich vor diesem imposanten Komplex. In der Kantine wird Künstlerbier zum Schnitzel gereicht, am Holztisch mutiert Doctor Pichelstein zum Peitschel, zum Lovepeitschel. Warum, das ist nicht überliefert. Ist man den ganzen Tag unterwegs, mutiert verbal immer irgendetwas. Manchmal auch somatisch, dann werden Strichlisten für Klogänge erstellt. Mister Technikus lädt schließlich zur Arbeit, in Windeseile steht die Bühne, der Sound ist kuschelig warm, der Mann versteht sein Handwerk und die Doctors herzen erste Pratajev-Fraktionen. Oranienburg-Teschendorf? Vollzählig erschienen. Birkholz? Anwesend. Prenzlauer Berg? Da. Und so geht es eine ganze Weile bis immerhin eine satte Hälfte des Salons mit Leibern gefüllt ist, womit sich die Auslastung im Vergleich zu sonst drastisch erhöht. Selbst die Bardamen schauen verblüfft und streicheln lieblich Cocktailmarken glatt.


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Das Intro läuft, der Wodka fließt, das Konzert spielt sich wie von selbst. Pichelstein ist in Trance, galoppiert Makarios ein ums andere Mal davon, zustimmende Choräle aus dem Publikum verleihen Flügel. Gesucht wird der berühmte „Boden unter den Füßen“, doch wo die Schuhe wandeln, entschwebt man stets in ein Farbenmeer aus Licht. Licht, Licht, Licht, das Publikum sieht man nicht. Aber es ist deutlich zu hören und scheint auch Prumskis Bauernoper nach der Pause freudvolles abgewinnen zu können. Bulbash wird zur Bühne gereicht, Fürst Fedja muss sich bescheiden und verkündet am Merchstand eisern: „Ich bin der Fahrer.“ Gefahren wird noch nicht, erst Stunden nach dem Anpfiff nebst Monster-Zugabenblock. „Sonne und Brot“, „Der Abend ist gelungen“ und natürlich darf an einem derart kulturbeflissenen Ort eine letzte Howie-Schnapsbar nicht fehlen. Das Navi in den Köpfen verlangt danach. Bitte geben Sie Ihren Zielort ein. Ich wiederhole: Schnapsbar. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Verlassen Sie Ihr Ziel nicht zu früh. Wenn doch, dann möglichst bitte wenden.

 

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