Als die Menschen sich stapeln lernen (393)

 

Doktor Makarios lässt den Blick über die Landschaft schweifen. Perlen aus Schweiß säumen die Stirn. Dürre, wohin man sieht. Die Wüste naht, mit heimtückischer Gleichgültigkeit verbrennt die Sonne Wald und Pilz. Sogar ein Gurkenfeld in Brandenburg steht in Flammen. Käfer flüchten, Igel, Bienen, Vöglein, Eichhörnchen und Musiker dursten. Es ist eine wunderbare Zeit. Man kann so viel Gutes tun. Großen und kleinen Naturbewohnern (und Musikern) viele Schälchen voller Wasser (und Schnaps) bereiten. Doch nicht vergessen: Steinchen hineinlegen, damit die Käfer und Bienen (und Musiker) nicht ertrinken.

 

Seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Es ist heiß, heiß, heiß. Erschwerend kommt die Hetze-Welle hinzu. Ei der Daus! Die Leute scheinen an den Smartphones förmlich zu implodieren. Tunlichst vermeiden sollte man es, Kommentare zu lesen. Tut man es aus einer Verlegenheit heraus doch, möchte man die Koffer für immer packen und auswandern. Vielleicht nicht gerade nach Brandenburg, Portugal wäre schön. Der waschechte Portugiese hetzt nämlich nicht. Er rastet und ruht in seinen Gedanken und die richtet er schön lecker mit Portwein an. Seine Finger wollen nach Feierabend nicht arbeiten, im Internet suchen, sich auf einen Bericht stürzen, um ihn verbal zu vermöbeln. Was soll das auch für einen Sinn ergeben? Früher traf man sich im Wirtshaus, tauschte Schnaps, Argumente, und den ein oder anderen Schlag aus. Fertig. Heute ist das anders.

 

Vor etwa zwei Jahren schrieb Doctor Pichelstein in ein sogenanntes „Gema-kritisches Forum“ hinein: „Danke, liebe Verwertungsgesellschaft für die finanzielle Möglichkeit eines Urlaubs in Portugal. Es hat sehr viel Spaß gemacht, wir haben alle Live-Tantiemen versoffen und verfressen.“ Was war da am Ende los! Was hatte Pichelstein bloß geschrieben. Am Ende der 43 Hasskommentare kam er sich wie ein geprügelter Hund vor. Wie ein ganz kleiner, wie so eine Fußhupe. Tja. Aber! Gelernt hat er: Der Neid, es ist der Neid, der die Menschheit entzweit. Und 43 kleine Dummbratzen sind ein Klacks gegen Milliarden von Menschen, die einfach die Klappe gehalten haben. Theoretisch hätte ja jeder Weltbürger was tippen können.

 

Mit zwei Autos ist man heute unterwegs zur Hofnacht nach Pirna. Die Vorhut bildet Fürst Fedja nebst Anlage zur Beschallung des Publikums, die Nachhut bilden Makarios und Pichelstein. Und da der Doctor Makarios auf Hochtouren laufende Klimaanlagen weniger leiden kann, schwitzt man sich schon mal nass. Vorbereitung ist alles.

 

 

Schließlich, in Pirna angekommen, gibt’s Burger und Tabletten gegen Sodbrennen gleich hinterher. Am Himmel ziehen die Wolken und nein, das ist nicht wahr, werden die Wolken gleich gemolken? Werden sie. Eben an der Langen Straße gestrandet, bricht ein Gewitter vom Zaun. Pichelstein steht mitten im Regen und freut sich. Man glaubt im großen Rest des Jahres kaum, sich über derartiges zu freuen, doch heute ist das so. Nach einer halben Stunde scheint wieder die Sonne, ist der Himmel blau. Da heißt es: Kaltgetränke wegstellen, Bühne aufbauen, schwitzen.

 

 

Kaum steht das Werk, setzt hektisches Hoftreiben ein. Gefolgt wird der Parole: „Schnaps ab acht, Musik ab neun.“ Doch will man unbedingt einen der begehrten Sitzplätze erhaschen, kann es heißen: „Durst bis acht, betrunken um neun.“ Fürst Fedja muss heute behutsam schlürfen, will er seinen Geburtstag um 0:00 Uhr noch erleben. Vorweggesagt: das klappt ganz gut. Ganz wichtig bei diesen Temperaturen ist bekanntlich die Flüssigkeitszufuhr. Verliert man einen Liter Schweiß, sollten dem Korpus zwei Liter Nass rückübertragen werden. Dann liegt man immer vorne und dreht der Blase eine Nase. Nee, falsch. Umgekehrt. Zwei Liter Bulbash sollten hingegen bei 30 Grad nicht in kürzeren Abständen verzehrt werden. Auch keine Haschkekse, die es unterhalb der Ladentheke geben soll. Sicher ist das nicht. Bis spät in der Nacht schiefe Türme gewahr werden, schiefe Türme von Pi-rna, nicht Pi-sa.

 

 

Das Konzert fällt in die Spektakulär-Kategorie. Als die Menschen sich stapeln lernen, geht’s los mit der Ballade vom Rotarmisten. Pichelstein blüht auf, er liebt solche Konzerte, auf denen alles erlaubt ist. Schnelle Titel langsam spielen, neue Intros ausprobieren, überraschende Brüche, Textergänzungen bis zur völligen Stille, herrlich. Jazz! Punkrock auf der A-Gitarre! Und genau bei diesen Konzerten sind Weltpremieren drin. Heute fällt die spontane Entscheidung auf: „Der Satte.“ Eine Minute lang, damit der Titel demnächst auf eine Sampler-Langspielplatte des Major Labels passt. Schnaps wird bis zum Abwinken gereicht, nur gut, dass beide Docs heute kurze Hose tragen. Denn, und das ist fast wieder eine Weltpremiere, wir haben heute das zweite Konzert in kurzen Hosen. Man müsste jetzt ein wenig Tourtagebuch lesen, um festzustellen, wann und wo das erste Kurzhosenkonzert über die Bühne ging. Vermutet wird Pirna, heilige Stätte des großen Zinnobers. Es lockt die liebliche Schnapsbar in schweißnasser Konzertpause.

 

Nach 23 Getränken, nein, Minuten geht’s weiter, weiter, weiter. Mit dem „Edlen Man“ als Bonus, denn der wird nur hier gespielt. Mit weiteren Zugaben, bis das dritte Bühnenhandtuch auszuwringen ist. Was für ein Abend, was für eine Nacht, was für ein Morgen. Beim Frühstück trifft man auf letzte Mohikaner, die bis dato kein Auge zugetan haben.