Rettungsschirme am Elbufer (280)

 


Auf zum 23. Elbhangfest. Gleich mehrere Automobile machen sich aus Leipzig mit auf den Doctorenweg. Heute dem Pratajev-Tross beiwohnen zu wollen, darf als weise Entscheidung geherzt werden. Brotnowaljow Numski Guinnessoff, Fürst Fedja, Goldeck-Art-Experte Shiva und wie sie alle heißen. Doktor Pichelstein trifft als erster an der Alten Feuerwache ein. Kinderfüße und Aufsteller wurden weder an- noch überfahren. Gar nicht so leicht, den Spielort zu erreichen. Voll ist der Elbhang, noch scheint die Sonne und alle haben Hunger, Durst und erfreuen sich an der Verameisung des Menschen. Eine wahrlich philosophische Wortschöpfung, welche Doktor Makarios, gezeichnet von den Erlebnissen des gestrigen Fusion-Festivals, eben erst kreierte.

 

Pichelstein fällt am hurtig gefundenen Becherovka-Stand passend dazu eine weitere Philosophie an. Es ist jene über die Verblockflötung von Kleinstkindern. Nichts gegen die Kleinkunst, davon lebt ja so ein Elbhangfest. Nichts gegen die lustigen Männer und Frauen, die sich sächsisch gefärbte Sätze um die Ohren hauen, dass weitere Wortschöpfungen wie Tourette das Gehör der Welt erblicken, bzw. akustisch mit sich voll machen. Jedenfalls. Die Verblockflötung von Kleinstkindern ist ganz schlimm und furchtbar. Kinder sollten Eis essen, an Zuckerwatten kleben und Karussell fahren. Die meisten tun das zwar auch, doch einige wenige meinen, mit einer mindestens 35-fachen Wiederholung des gefühlvollen Liedes „Greensleeves“ den Stein der Weisen gefunden zu haben. Zumindest was die Bewältigung ganzer Nachmittage zur Aufbesserung des Taschengeldes betrifft. Ist das schon Kinderarbeit? Natürlich ist es das. Und die Gage fällt auch mager aus. Drei Gläser Becherovka, siebenmal Greensleeves, im Hut: 20 Cent. Da lässt es sich in Bangladesh, aber nein, so weit wollenwir gar nicht fahren.

 

 

Froh ist man, als die Bühne steht, auch die Nachfolgepartyskarockband mit allem zufrieden scheint, Grillfleisch an Ketchup gereicht wird. Nur, dass es ausgerechnet vorm Konzert regnen muss. Blöd. Doch die meisten Menschen tragen Schirme, Rettungsschirme. Und wenn mal einer fehlt, kuschelt man sich an den Nachbarn. Als das Intro gegen halb neun über den Feuerwachenhof donnert, hofft man nur, dass es keine Schlammschlacht geben wird, dass die Deiche halten, was die Elbe nicht verspricht.

 

 

Im Trockenen stehen und über Pratajev dozieren, musizieren. Leicht gelingt es heute sogar Tanztumulte anzuzetteln. Pichelstein blickt mehrfach sehr bewundernd ob der vorhandenen Textsicherheit ins verehrte Publikum. Daraus lässt sich doch bestimmt ein Chor formen. Doktor Makarios, mit besten Kontakten zur sich linksseits der Bühne befindlichen Schnapsbar, sorgt für überraschende Strophenverkettungen, des Gitarrendoctors Saitenhysterie knackt fast den Weltrekord in der „Harten Wirtin“. So tönt, schreit, singt, spielt es sich mit großer Lust und Laune. Schwitz es sich, nicht zu vergessen. Selbst die Mücken rutschen am glatten Pichelsteinhals ab und können sich nicht festsaugen. Aufgeheizt geht’s in den Zugabeblock, nachdem die heutige Geschichte Pratajevs über große Strecken vorläufig zu Ende erzählt ist. Die Doctoren überlegen kurzfristig, ob sie nicht zum Stagediving ansetzen sollten; somit wäre einer pratajevgerechten Schlammschlacht Tür und Tor geöffnet. Doch nein, nass wie die Schwitzfische aus dem Bolwerkower Musikerteich, der so heißt, weil Pratajev darin einmal lästige, furchtbare Instrumente am Tag der Maultrommeln von Igursk versenkte, geht’s in den Niesel hinein. Auf an die Schnapsbar, an den Grillstand, zur OB-LA-DI-OB-LA-DA-Becherovka-Frau (die Flasche für 62,50 Euronen. Erkenntnis: Nach jedem Jahr Elbhangfest, erster Tag, sagen sich die Doctoren: Schöner kann’s nicht werden. Und glücklicherweise irren sie da.