Motte im Mund (282)


Mit Kevin, der Colaflasche, fährt Doctor Pichelstein dem Sangesdoc hinterher. Fürst Fedja und Makarios brachen bereits am Vortag gen Pirna auf. Auftrag: Kesselsuppe kochen. Genauer: Krautsuppe nach einem Originalrezept Pratajevs. Bei Außentemperaturen um die 30 Grad kein leichtes Unterfangen, denn so eine Köstlichkeit rührt sich auf offenem Feuer nicht von selbst. Passend dazu gestaltete sich das Eintreffen einer Marge handgeschnitzter Holzlöffel mit den Insignien „Russian Doctors“ und (natürlich) „Löffel aus Holz“. Fertig ist das Pratajev-Gedeck? Von wegen. Den passenden Schnaps lieferten weißrussische Schwarzbrenner. Ein Honigvodka, sanft wie ein Lämmchen, wolfig im Abgang.

 

 

Am Spielort der Langen Straße herrscht hektisches Treiben. Consigliere Ulf trägt einen Lappen auf dem Kopf, schwere Bretter in Händen. Andernorts werden Tische verschraubt, Kühlschränke verfüllt. Frosten genannt - der Sächsischunterricht der Herren Fedja und Makarios am Schüler (aka teacher’s pet) Pichelstein nimmt glücklicherweise kein Ende. Böhmische Kaltgetränke lassen den Gitarrendoc eindeutig überhitzt dahindämmern.

 

Nach dem Bühnenaufbau klebt’s Hemd wie ein nasses Halbkörperpflaster, fließt der Schweiß aus dem Schuhwerk. Was hilft da nur, womit werden unliebsame Aufgaben zum Positiven hin getriggert? Mit Honigvodka. Zu dem sich schon bald bulgarisches Nass aus Banja gesellt; Eademakow plus S-Töchterchen im Russian-Doctors-Shirt nebst Winogradow erscheinen auf der Bildfläche. Nach einer 1200-Kilometer-Autofahrt mit gestrigem Zwischenstopp am Balaton. Dabei sollte eben noch Peter Richter (Wismar) der Ehrenschnaps für die weiteste Anreise verliehen werden.

 

 

Schön durchgezogen ist die Suppe, die Löffel fahren, löffeln hinein. Wenn’s nur nicht so heiß heute wäre, Doppelportionen wären sinnvoll und möglich. Im Innenhof streifen beengt junge, ältere Trunkene umher. Klammertanz auf dem Weg zur inneren Abkühlung oder meinetwegen auch Einkehr. Ein Stockwerk drüber fragt man sich, wann The Russian Doctors endlich beginnen. Doctor Pichelsteins Kopf steckt noch in der Froste fest, Doctor Makarios ist bereits jetzt dem Sumpf geweiht. Und los geht’s mit Liedern aus Land und Dorf, zur Abkühlung „Als das Eis kam“. Es hängen die Katzen, braten die Schweine, hungert die Dünne, fließen die Schnäpse. Dann wird er aus der Kiste gekramt, „Der edle Mann“. Lange verschollen, seit 2004 nicht mehr dargeboten. Stolz und erhobenen Hauptes präsentiert Doctor Markarios im dunkelsten Post-Gothic Strophe um Refrain und Strophe. Schwestern wollen wieder Schwesternschülerinnen sein und Consigliere Ulf, dem diese Pratajev-Weise heute gewidmet wird, strahlt heller als eine rote DDR-Turnhose aus den End-80ern.

 

 

In der Pause wringen sich die Doctoren, so gut es eben geht, aus. Fürst Fedja, Winogradow, Eademakow treten als rettende Schnapsboten ins UV-Licht. Dort halten die Motten Rat ab, bevor in Makarios‘ hinterlegtem Schnapsglas, in Pichelsteins sorglos abgestellter Böhmenflasche kollektiv gestorben wird. „Motte im Mund“, so könnte es nach Art Pratajevs heißen, „Kaut sich zwar gut / Ist aber ungesund“. Was folgt, ist „Pratajev in Prague“, Gläser hoch, als der kürzlich verstorbene Secret 9 Beat-Tom, die Leinwand betritt. Konzertblock Nummer zwei reiht sich ein. Dann, als die Elektrolyte im Orkus nicht mehr mehrheitsfähig sind, ist’s nach der letzten Schnapsbar vorbei. Die wandelnde Volkshochschule Pichelstein erteilt noch Gitarrenunterricht. Nichts wie zur Suppe, zur leckeren. Denn das hat man sich jetzt durchaus (sächsisch: ÜBELST) verdient.