Wo die Sonne steht, da steh auch ich. Konzert Nummer 1 (231)


Seitdem Jörg Kachelmanns Schürzenjäger-Schlagzeilen ihn von seiner rettenden Froschleiter im Wetterbildschirm bisweilen leider beinahe komplett vertrieben, ist einfach kein Funken Verstand mehr ins Wetter zu bringen. Gut, der Sommer ist dafür vielfältiger bis artenreicher (Mücken! Wespen!) geworden und Glück hat ein jeder, der ihn nimmt, wie er ist. Doch wenn noch irgendwer das Wort „Klimawandel“ in den Mund nimmt, wenn das noch einer sagt, dann geht’s ohne Frühstück ins Bett. Darauf hat man Lust, wie das Schwein aufs Messer.


Heute aber, man glaubt es kaum, heute läuft alles nach Pratajevs Gusto und in der Tourbuch-Überschrift steht’s gerecht geschrieben: „Wo die Sonne steht, da steh auch ich“. Endlich. Es ist schwül, heiß und stickig. Im Tourbus dürften‘s 40 Grad sein, die Schokolade schmilzt und Doktor Pichelsteins neues, schwarzes Sonov-T-Shirt ist bereits beim Einladen der Anlage ein einziger nasser Wischlappen. Zur Qualität spezieller Stoffe aus tschechischer Produktion sei noch angemerkt: Bei Hitzeentwicklung verliert das Ursprungsmaterial viel Farbe, welche sich wenig später in den Hautporen als krümelige Dreingabe wiederfindet. Frauen, die noch heute am Weiher waschen müssen, kennen das Problem und greifen vor Verzweiflung in der Folge gerne zur Flasche. Die Folgen sind bekannt.


Nachdem gefühlt 100 mobile Wohnanhänger mit holländischen Kennzeichen erfolgreich umkurvt wurden, kommt PirNatürlich (offizieller Rathaus-Slogan) immer näher und die Freude aufs erste Kaltgetränk in Reinkultur wächst mit jeder Minute. Hofnacht im Sommer, anders war’s im letzten Jahr, und in Ulfs Langer Straße grinsen sie breit. Alles läuft wie eh und je, locker bis ungestresst. Der Kühlschrank macht einen hervorragenden Job, der Rosenbowle werden letzte, liebliche Tropfen hinzugefügt und Doktor Makarios beklebt Weinflaschen. Womit, mit welchem Label, das verrät die nächste Überschrift des Tourbuches. Denn was zu diesem Zeitpunkt, so gegen 19 Uhr auf der Hutbühne zu Pirna, noch niemand ahnt: Heute wird alles gespielt, fast alles. Die anderen drei Stücke der Russian Doctors fallen dem Schnaps anheim. Ergo: Zwei Konzerte werden es, eines heftiger als das andere. Kommen wir zum Ersten, zu den Höhepunkten.





Doktor Pichelsteins neue Gitarre erlebt die Feuertaufe. Tja, wenn Gitarren sprechen könnten. „Eben stand ich noch ganz harmlos bei Musik Produktiv in diesem Kaff Laggenbeck bei Ibbenbüren herum, dachte mir, na gut, da kommt dann wieder ein langweiliges Langhaar, einer dieser Frauenversteher, und zupft so, puh, wenn ich das schon höre, rein sessionmäßig auf mir herum, und beschwert sich dann, ich sei zu leicht und vielleicht zu teuer und was weiß ich? Aber dann nimmt mich der schnellste Gitarrist von ganz – was noch mal alles? - einfach aus dem Ständer, stöpselt’s Kabel an die Box und spielt Biber auf mir. Wir wurden dann schnell gute Freunde und ich glaub, ich hab ihm da auf der Hutbühne keine Schande gemacht. Na okay, nach zwei Stunden Konzert riss die erste Saite. Aber das lag an der Saite, woran denn sonst?“ Tja, wenn Gitarren sprechen könnten. Es spricht aber zwischendrin meist nur Doktor Makarios und es singt das dichtgedrängte Publikum den Katzenchor. Herrlich, das hat’s bisher noch nie gegeben. Und so folgt Lied auf Lied, unterbrochen von einer kleinen Pausesause mit Hüftschwung zur Schnapsbar. 23:30. Zwei Stunden pures Glück, Ende des ersten Konzertes. Ulf, Jürgen, Enrico und allen, allen andern ein Hofnachtdank!

 

My colour is red. Konzert Nummer 2 (232)

 

Was sollte jetzt noch Erwähnung finden? Die Überschrift erklärt sich mit dem Besten, was Weinberge, wörtlich gemeint, so drauf haben. Ein leckerer roter, trockener, ein Die-Art-Wein eben. Neue Edelmarke, Doktor Makarios wird zum Mundschenk.


Während beide Doktoren, ob gedacht getaner Arbeit, recht erschöpft auf Bänken vegetieren, ist die Unruhe im sich mitterweise fast komplett neu gemischten Publikum deutlich spürbar. Der rettende Satz: „Na wir haben doch bis gerade erst gespielt“ gilt immer weniger und als dann Ulfs C-Hooligan-Betreuer vom Dynamo-Spiel aus Fürth in der nunmehr im Lampenschein vegetierenden Szene erscheint, da muss es eben sein: „Mein Doktor, es geht weiter,“ sagt ein Erbe Pratajevs dem anderen. Schon springt man in die neue Runde …so plötzlich. Mit diversen Dopplungen sind es am Ende knapp über 80 Titel. Hach und dann geht gar nichts mehr. So muss sich Tutukin, der Radfahrer, gefühlt haben, als er die Bergstrecken des Mittleren Urals bezwang. Reif für die Reha, doch einen guten Wein dabei in der Hand. Kaum zu schaffen sind die wenigen Meter bis zur Pension und vorausschauend sei an den mittlerweile drei Stunden langen Sonntag gedacht: Wie soll’s mit dem nur weitergehen?  

Veterinäre wissen: Der Kuh (und dem Gerrit) geht’s gut (230)



Schlimm ist’s, wenn morgens der Handywecker zum Frühstücksappell ruft. Diesen Augenblicken fehlt es eindeutig an Charisma und man versucht ihrer wenig zu gedenken. Doktor Pichelstein ist froh, dass eine Schnapswahrsagerin ihm vorm Zubettgehen empfahl: Geh lieber nachts noch in die Dusche, morgen früh wird das nichts mehr. So sitzen die Doktoren schließlich am gedeckten Park-Pensions-Tisch und gehen zum überdachten Rauchen ein bisschen Spreegucken mit Anglerbötchen obenauf. Mutig kreucht die Nussschale übers Wasser. Von oben dauert Regen hinein und hinterrücks naht ein dicker polnischer Schleppkahn namens Louise.

 

Nun gut, die Spuren der Nacht eindrucksvoll im Gesicht tragend, wird der Bus am Club gestartet. Landstraße bis zur Autobahn, die Scheibenwischer wuseln im Schweinsgalopp wie geschmiert. Und an der ersten Raststätte sehen die u.a. aus Bussen quellenden Rentner sehr nach Überschreiten des Verfallsdatums aus. Einer der ihren wird vom Nachwuchs vermisst. „Vatter, allet klar?“ ruft es ins Männerklo hinein. „Jaja, dauert noch“, kommt flehend jene Antwort, die man besser überhört hätte. Es gibt eben sehr viele Gründe eben nicht jene Örtlichkeiten einer Vielbereistheit aufzusuchen. Und wenn doch, kriegt man davon Gedankenherpes.


Gefühlte kurvenreiche, schlaglochumringte Ewigkeiten später (ausgerechnet: kurz vorm brandenburgischen Einfallstor Großenhains musste die Autobahn staubedingt verlassen werden), dringt der Tourbus in die Flora und Fauna des Muldentals ein. Der Weg gen Wechselburg ist das Ziel. Dort, wo Sühnezeichen und Mordsteine das Landschaftsbild prägen, wo dem Porphyr am Vers gelutscht wird, die Kühe im satten Gras stehen, wo ruhmreicher Bergwald eine Stadt namens Mittweida gebar. Leider, möchte man sagen. Leider, Mittweida.



Im Mietschutzportal www.wowirwohnen.de finden wir da etwa den Eintrag 1025496 vom 24.01.11 (hochwertig) über die Lutherstraße 54: (…) es handelt sich hierbei um einen Neubaublock. Er gehört zu einer Genossenschaft. Die kümmert sich sehr um diese Wohngegend, es wird versucht es trotz Neubaublock schön zu machen, auch ringsherum. Es gibt dort hauptsächlich Rentner und einen Teil ausländische Mitbürger. Die Grundschule ist gleich nebenan, und der Kiga ist auch nicht weit entfernt. Nah ist auch das Stadtzentrum und die Hochschule. Man hat geringe Heizkosten, wenn man so ziemlich in der Mitte wohnt. Die Mitarbeiter der Genossenschaft sind sehr nett, bis auf eine Ausnahme: wenn man die Wohnung nicht perfekt hinterlässt, dann wird dieser Herr gleich ausfällig und hat fast rumgeschrien, furchtbar eingebildet und arrogant! (…)

 

Da steckt viel Wahrheit drin und gerne würde man all die Rechtschreibschwächen übertünchen, doch das wäre ja dann eine Fälschung, eine Verzerrung der Wirklichkeiten in Mittweida. Fraglich ist natürlich, was es damit auf sich hat, eine „Wohnung nicht perfekt zu hinterlassen“. Doch genug der selbstredend schlimmen Disserei eines beleckten Städtchens im frischen Landkreis Mittelsachsen. Auf geht’s zur umgeleiteten Hauptstraße Richtung Topfseifersdorf. Rechtskurve voran, Fenster auf und gute Sachsenluft schnuppern. Rochlitzer Hügel im Nacken, Zeitzeugen durchstreifen die Landschaft mit einer Konsum-Tüte voller leerer Flaschen. Nicht mehr weit kann’s sein bis Königshain-Wiederau, der wahren Auster des Muldentals. Hier stellt man sich Pratajev vor. Wie er mit seinem Lieblingsveterinär J.P. Kuhin über die Felder streift, Kühe impft und die Nase rimpft. Wo jedes Dorffest zwischen Göhren, Mutzscheroda, Nöbeln oder Zschoppelshain zum Diskant ausartet. Wo mit Schnaps-Schüssen auf Schwein und Reh gegangen wird und im Weiher die Frauen ihre Wäsche vergessen. Alles eine Frage des Naturells. Dann wird die Praxis des Ehrenmitgliedes Nummer 38 unserer Pratajev-Gesellschaft - in seiner Funktion als Pferdelungen-Transplanteur – erreicht und die Zeit knappt sehr. Mitgeführte Geschenke zum Ehrentag bleiben ergo uneingepackt. Aber das macht nichts. Herzlich schön ist der Empfang, Veterinär Gerrit strahlt im Glanz des Sektes. Kuchenzeit ist Schnittchenzeit und Doktor Pichelstein wird’s gestattet, die Konzertgitarre auf dem Behandlungstisch neu zu besaiten. Viel gibt’s rundum zu entdecken. Später auch die Pension „Zum Hirsch“. Hier soll tief nachts der müde Augenschluss geschehen und betrachtet man es aus der Retrospektive: sehr gut war’s dort auszuruhen, zu speisen und dem Sommerregen bei seinem Tagwerk zuzusehen. Gespielt wird heute Abend im renommierten Ballsaal „Zum Schulzenhof“. Die Tische sind gedeckt, Sekt reicht sich fleißig von Hand zu Hand, die Feierreden sind gespickt mit edler Poesie und man erfährt auch sehr viel über das Freizeitverhalten, das Zünden von Böllern in Küchen der Kindheit, insgesamt übers Leben und Wirken eines Veterinärs, unseres Veterinärs, denn er lebe hoch. Natürlich auch im Tourtagebuch der Russian Doctors.





Vorab schraubten deren Repräsentanten Makarios und Pichelstein Technik und Bühne zurecht. Welch ein Rundblick! Bis zum unglaublich leckeren Buffet am anderen Saalende ließ es sich von dort oben aus sehen. Dann die letzte Zigarette vorm Intro und los geht’s mit der ersten Lehrstunde Pratajevs in Sachen Landleben und (natürlich) Veterinärmedizin. Dem „Tierarzt“ folgt die „Pferdelunge“ und so weiter bis fort zur Schnapsbar es geht. Nicht ohne Heilkräuterbühnenversorgung durch Ehrengastgeber Gerrit. Und dass es dem heute gut geht, beweisen all die lieben Gäste im Saal. Der charmante Fluglehrer unter ihnen diskutiert mit Doktor Makarios lang übers Pilzgeschehen an sich und lobt Leipzig für seine Seenlandschaft von oben. Bis der nächste Ramazotti seinem Gläschen entweicht und das zweite Set der Doctors mit dem „Rotarmisten“ beginnt. Wippende Füße, schlotternde Beine sind auszumachen; letztlich gibt’s seit langer Zeit mal wieder live und in Farbe Pratajevs Lied über „Die Geburt“. Herrlich. So könnte es immer sein. Große Feierstunden wie diese hier finden wahrlich viel zu selten statt. Danke, lieber Gerrit, für diese hier!





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