Gefangen im Backstage (313)


Leipziger Konzertabende beginnen grundsätzlich damit, dass irgendetwas Wichtiges zuhause, im Proberaum oder im Labelbüro vergessen wurde. Doch da die Heimat nicht einmal nah ist, sondern Teil des heutigen Vergnügens, macht das nichts und „The Tank“ wäre nicht Fürst Fedja, wenn sich die Sache nicht rasch korrigieren ließe. Und während zwei Nachdrucke des großen Pratajev-Malwerkes „Die Trinkerin“, die dazugehörigen Fläschchen Milzbrand nebst des obligatorischen Fotoapparates herbeigeschafft werden, wird Doctor Pichelstein Zeuge kleinerer Verzweiflungen am Ort des heutigen Geschehens, dem Plagwitzer Bandhaus.

 

Ein Lichtmischpult, modern und ausgefuchst, versehen mit mondäner Spracherkennung, bietet für die Bediener Anlass genug, um in den nächsten Mixer springen zu wollen. Müsste man den tonalen Lauten des asiatischen Herstellungslandes mächtig sein, um übers Reset-Los ans Ziel gelangen zu können? Ein Mischpult-Flüsterer fehlt. Es wird gerufen, geschraubt, gedreht bis sich schließlich doch der Saal in ein Meer aus Farben verwandeln darf.

 

Pichelstein ist darunter längst mit dem Bühnenaufbau fertig geworden. Der Soundcheck folgt, dann ist es so weit. Die Doctoren werden gefangen genommen und ins Backstage verbracht. Tür zu, denn Andreas, das unwesentlich ältere der beiden Geburtstagskinder, soll übers Livegeschenk noch im Trüben gelassen werden. Vielleicht spielen die Doctoren mal bei einem Braut-Junggesellenabschied auf - man könnte sich bei so einem Event vorstellen, in eine Pappmaché-Torte verpackt zu werden. Was wäre das Gekreische groß. Ein blitzendes Feuerwerk scheppert und statt nackter, maskuliner Pumpmasse (wie erwartet) springen zwei dezent gekleidete Doctoren ins Feld und singen: „Frauen die wie Katzen kreischen“.

 

 

Im Backstage gilt es erst einmal versorgt zu werden. Die Connewitzer Holzlöfflerfamilie um Genosse Silvio schafft heimlich Steaks vom Grill heran, reicht Salate, Biere und grünen Mundwasserschnaps in Hülle und auch Fülle. Es mundet sehr und mit ebenso vollem Mund lassen sich prima kryptische Botschaften der an diesem sofalastigen Ort bereits abgestiegenen Bands nachlesen. Die Wände sind voll davon. Ein ungeschriebenes Jungs-Musiker-Gesetz lautet allenthalben: Spuren hinterlassen verschafft Ruhm und Ehre. Egal wie. Der Edding-Stift als ausführendes Organ ist dabei genauso beliebt wie der provokante Aufkleber mit möglichst schockierender Bebilderung. Bevor das erste Küchen-Demo eingespielt wurde, verfügte jede juvenile Kellerband über mindestens fünf verschiedene Aufklebervariablen und hat genauso viel Geld in Gitarrensaiten gesteckt, wie in den Erwerb von nicht abwaschbaren Filzstiften.

 

Die getaggten Wandbotschaften haben zunächst einmal schlüpfrigen Charakter. Dicke, haarige Ovale an nicht unbedingt großen, dafür aber plumpen Stumpen, die etwas tintenartiges versprühen. Direkt daneben kleben, wer hätte es gedacht, Aufkleber. Eine bereits skelettierte Dame mit großen Brüsten stand Motivmodell. Der darüber platzierte Bandname ist leider nicht merkfähig. Die Namen anderer Bands in Reichweite sind nachvollziehbarer und dem metallastigen Musikgenre würdevoll angemessen. Doctor Makarios fragt sich, wie sich die jungen Künstler nach einem „Trade“ wohl unterhalten. Vermutlich so: „Ey, spielst du jetzt Gitarre bei Brennendes Arschhaar?“ – „Nee, du Impfer. Bass, bei Dickdarm“.

 

Ob „Impfer“ das Unwort des Jahres 2015 wird, muss sich noch zeigen. Die Betonung liegt auf: Unwort. Pratajev wäre kein Fürsprecher geworden. Der impfte in den 30er Jahren, in der Praxis Ortopedov, für sein Leben gerne die Schulkinder. Und er tat recht daran. So, liebe Eltern, das musste mal gesagt werden. Doctoren wurden auch geimpft und es hat ihnen nicht geschadet.

 

 

Schnapsgeimpft geht’s auf die Bühne. Das Intro läuft, Spots an. Die Schar der Pilger staunt nicht schlecht. Nach den „Feldmännern“ überreicht Doctor Makarios beiden bass erstaunten Geburtstagskindern je eine „Trinkerin“ nebst hochprozentiger Milzbrand-Gabe. Wohl bekommt’s und im Brausesaus erledigt sich die erste Konzertrunde nach einer Stunde. Zwischendrin streikt das Lichtmischpult. Ausgerechnet im Gitarrenlauf zur „Heilung“, den Doctor Pichelstein dann unter voller Saalbeleuchtung sauber ans tosende, johlende und glückliche Feiervolk bringt. Nichts, wie an die Schnapsbar.

 

Nach der Pause folgt der „Rotarmist“; die Doctor-Spiele erfahren eine würde Fortsetzung. Wild und schamlos sind sie. Es wird gebückt bis sich die Saiten biegen, bis die unvermeidbaren Zugaben branden. Den „Löffel aus Holz“ hat man sich bis hierhin aufgespart, den „Raucher von Bolwerkow“ genauso und natürlich alles, was noch dargeboten wird. Jedes Konzert ist eben ein Unikat. Setlisten benutzen die Erben Pratajevs, getreu ihres großen Meisters, stets nur als Orientierungshilfe. Selbst eine „Weite weite Welt“ darf nicht fehlen. Un-Art-ig wird sie ins Rund geschmettert. Dann reicht’s für heute. Es klebt der Schweiß, frisch ist der Atem vom grünen Mundwasser, welches in loser Reihenfolge auf die Bühne gereicht und dankbar verzehrt wurde. Raus an die Schnapsbar, schon wieder. Mal schauen, was noch so auf dem Grill liegt. Der Abend im Bandhaus ist gelungen. Und wie.