tour_tagebuch
Flaschbar (489)
Nachts um zwei schickt Doc Makarios ein paar Hilfezeilen, die Pichelsteins Hosentelefon erreichen, um Stunden später gelesen zu werden. Der Inhalt lässt wenig Gutes erahnen; der Himmelfahrtskommando-Virus (siehe: Tourbuch Nr. 488) sei zum Killer-Bakterium kulminiert, Folge: keine Stimme, nur Husten, kein Punk, alles Blues. Ob der Gitarrendoctor den lang ersehnten Abend im privaten Pirnaer Elfengarten auch solo bestreiten kann – so lautet die Tenorfrage.
Bisher gab es ein gleiches Szenario zweimal in der Doctors-Historie, zuletzt am 24. Juni 2012. Das damals 257. Konzert beim Elbhangfest in Dresden verbrachte Pichelstein auf einem Barhocker sitzend an der Grottenwirtschaft. Makarios quälte sich mit einer knapp bevorstehenden Messer-OP herum, hielt tags zuvor beim Open Air an der Alten Feuerwache noch die Fahne hoch, danach ging aber erst mal nichts mehr. Hm, und da besagtes Solo-Doc-Konzert einst vom Publikum recht hübsch abgefeiert wurde, warum nicht auch so nach Pirna fahren?
Gesagt, zugesagt, geprobt, getan. Wobei das lockere Verb „proben“ damit ausgeschmückt werden sollte, dass in einer beinahe wilden, knapp dreistündigen Aktion zuvorderst die Texte der Docs zusammengesucht wurden. Gut absingbar mussten sie sein; alles, was mehr als Schriftgröße 11 hatte, wanderte in Plastikfolien, denn kaum mehr als Refrains muss sich ein sonst eher mitsingender Gitarrist sonst nicht merken. Kommen wir zu „getan“ – als Reisebegleitung wünscht sich Pichelstein die Herzensdame samt andernorts oftmals zänkischer Hundedame, ein Island-Spitzmix namens Runa, herbei. Beide verschieben hechelnd alle Tagespläne, rein ins Auto, Navi-Dame an und losgefahren.
Aus Leipzig herauszukommen, eine Autobahn zu erreichen, ist derzeit ähnlich schlimm wie eigentlich überall in größeren Städten. Die Umleitungen haben es in sich; die Navi-Dame meint es gut und richtig – selbst als Pichelstein die vorgegebene Route blöderweise ignoriert, wird nicht geschimpft, werden Behelfstrassen mit Tempo 30 durchfahren, die man für immer hinter sich haben will. Dass Leipzig auch ländlich kann, war bisher eher im Verborgenen geblieben.
Umso schöner ist das Erreichen des Pirnaer Ortsteils Copitz, eingebettet in die prickelnde Naturlandschaft des Elbtals. Das Tourauto wird dank dauerpiepender Einparkhilfe am Flussufer eng verklappt, dort, wo sich in Überschwemmungslagen Forellen, Schleien und Zwergstichlinge Gute Nacht sagen. Die Zielhausnummer ist gefunden, die Sonne scheint, Hündin Runa will sogleich ins Wasser, die Herzensdame macht’s möglich. Nun rasch an die nachmittägliche Kuchentafel, paar Treppen hoch in Ronnys und Kerstins Elfengarten, großes Hallo.
Für Romantiker beschleunigt sich hier jeder Pulsschlag. Vorn die Elbe, der Radwanderweg. Oben die Bienenvölker, mittig der Garten. Ist besagter Garten doch nach wie vor eine Imkerhochburg, nicht umsonst gibt es ja seit neustem die Lyrik „Der Imker“ im Set der Doctoren. Ganz frisch dazu: Elbhonig, etikettiert als Russian Doctors-Edition. Es muss ja nicht immer nur Schnaps sein, oh nein.
Als Makarios und Pichelstein hier im letzten Jahr weilten, arbeiteten und schließlich wieder weilten, waren die Gartenbühne und vor allem die Anlagentechnik noch jungfräulich. Ca. ein Jahr später strahlt alles immer noch im feinen Glanz. Aus der Plakatierung „The Russian Doctors“ wird fix ein „The Russian Doc“ gemacht, ein Hocker steht schon für den Soundcheck Pate. Hündin Runa mag nicht so recht mit der rumänischen Konkurrenz, Haushündin Kelly, anbändeln. Es wird geknurrt, werden Zähne gefletscht, heißt übersetzt: „Lasst mich bloß unterm Tisch liegen, alles okkupiert, alles meins“. Jeder Tiertherapeut hätte eine wahre, monetäre Freude an derlei Gebaren.
Während Buffet und Grill mit kurzen Handgriffen aufgebaut werden, richtet Pichelstein die Bühne ein. Nach dem Soundcheck stromert Fürst Fedja samt Begleitung die Gartentreppe hoch, nochmals großes Hallo. Wie wenig später stets und ständig. Auch die Lichtenstein-Pratajev-Fraktion erscheint beinahe vollzählig, Bierbänke füllen sich, der Garten wird zum Futterplatz und weil der das Anwesen vergoldende Draußenkühlschrank gute Dienste fährt, gibt’s reichlich Kaltgetränke, ergänzt durchs Hopfenfass und Fedjas Mitbringsel aus den Weiten Weißrusslands.
Dann soll’s losgehen, Doc Pi dupliziert sich, wird zur Gitarre, greift mal in diesen Folienberg, mal in jenen, mixt Pratajevs-Kornblumenhits mit lang verblühten Stiefmütterchen. Ronny sorgt darunter für beste Bewirtung. Der Großmeister des Schnellgitarrespielens nimmt sich u.a. den „Hermelin“ vor, den „Rotarmisten“, zupft und jagt durchs Set, der Jubel wird baupolizeilich bedenklich und schallt rüber auf die andere Elbseite. Möglicherweise hat sogar der ein oder andere Elbedampfer davon Schlagseite. Man weiß es nicht.
Zwei jubelumrandete Pausen wird es geben, eine planmäßige, eine zum Ersetzen der gerissenen G-Saite nach dem „Gärtner“. Wohl der Euphorie geschuldet, denn eigentlich hält ein frisch aufgezogener Saiten-Satz locker ein knapp dreistündiges Doctors-Konzert durch.
Bleibt zum Schluss, nach der allerletzten Zugabe, zu klären, warum manche Textzeilen so zum Vortrag kamen, wie sie sonst nie zu hören sind. Weil der Text 1:1 abgesungen wurde. Wenn da eben steht: Flasche statt Tasche, tja. Und wenn da weiter steht: Ich muss raus an die Flaschbar, tja. Dann ist das wohl so. Im Bulbash waren jedenfalls keine KI-Tropfen, denn die KI bringt ja immer noch vieles durcheinander.
Vielen lieben Dank, lieber Ronny, liebe Kerstin, liebe Elfengarten-Menschen, dem Solo-Doctor hat alles sehr viel Spaß gemacht und die Nacht im Hotel Elbparadies verlief buntgeträumt.
PS: Ein Link zum Beweis:
https://youtu.be/3Pjq9cHcgL4?si=fc3RXedT3I0dd6Dc
Himmelfahrtskommando (488)
Endlich wieder Vatertag, zugleich Brückentag, einer der Tage im Jahr, an denen frei nach Harald Juhnke auch die Amateure saufen. Wie immer kalendarisch an einem Donnerstag, fünf Wochen nach Ostern, zehn Tage vor Pfingsten verortet. Mit viel christlichem Hintergrund. Jesus, zumindest post mortem ein recht beliebter Sektenführer, war vor mehr als 2.000 Jahren als Himmelfahrtskommando aufgestiegen, heim ins Reich, ins Himmelreich. Der Schluss liegt nahe, dass der Vatertag somit auf den Vater aller Väter, Gott selbst, bezogen sein muss, was viele als Humbug und reine Spekulation betrachten - so soll es ja auch gerne sein.
Auch heute benehmen sich sehr viele Menschen so, als seien sie von Gott in irgendeiner Form, für irgendeine Mission auserwählt worden. Denken wollen wir sogleich an Politiker, weiße Kittelmediziner, kombiniert mit dem Zeigefinger eines Eckart von Hirschhausen. Fernerhin an wie eine alte Schulbank bekritzelte, sprich: tätowierte Fußballer, ähnlich aussehende Musiker auf dem Halskettengebiet des goldenen Zuhälterghetto-Hip-Hop, an TikTok-Rapperinnen, ausgestattet mit Fingernägeln des Todes.
Um die geht es allesamt heute nicht. Eher um Väter und Männer, die mit ihren Kumpels um die Häuser ziehen. Manchmal sind auch Frauen dabei. Und natürlich um Pratajevs Erben, denn die Russian Doctors wurden für den heutigen Nachmittag von Christian, dem honorigen Chefwirt des Café Saale-Kiez, gelegen in Wettin-Löbejün, OT Brachwitz, zwecks Gartenkonzert gebucht. Das erste Open Air des Jahres und oh Wunder, der nicht personifizierte Wettergott spielt prächtig mit.
Mittags geht die Reise im gewohnt unbekümmerten Outfit los; Doctor Makarios wird gleich hinter Leipzig vom ersten Hustenreiz durchgeschüttelt. Ja, die (knapp unterbrochene) Die Art-Tour mit den Freuden der Italienischen Oper kostet Körner. Immerhin hat das Grippefieber den Doc verlassen, übrig bleibt ein Rest vom Virenfest. Pichelstein spendet Trost und Kaugummi, muss sich aber ansonsten dem Verkehr widmen. Am Tag der Bollerwagen, trunkenen Radfahrer, am Tag der anhängerreichen Trecker, aus denen grölender Malle-Sound schallt.
Gegen 14 Uhr ist der Café-Garten, ein herrlicher Ausflugsort am Saale-Radweg, mit Absprungmöglichkeit direkt in den Fluss, erreicht, wird Christian geherzt, der den Konzertrohbau fast im Alleingang auf sich nahm. Doc Pichelstein muss nur noch ein bisschen Backline aufladen, Gitarren in Ständer hieven und kann sich, so wie er’s mag, am ersten Gezapften laben. Doc Makarios schlürft derweil Honigtee, gut für die vom Husten ramponierte Stimme. Zum Soundcheck wird dann aber doch destillierter Geist gereicht.
Der Bühne, unter reich belaubten Kastanienbäumen angelegt, wird noch ein bisschen Pause - inkl. Playlistbeschallung - gegönnt. Das Kiez-Oval füllt sich; schon jetzt haben erste Gläser Schlagseite wie mancher im Publikum. Erdhockend, an Tischen, Bierbänken, an der schönen, grünen Saale-Wiese und davorsitzend, so wartet man geduldig, wie es sich gehört. Vor allem auf Doctor Pichelstein, der genüsslich ein Schnitzelbrötchen niederringt.
Finger abgeputzt, los geht’s mit dem Wind, der den Atem anhält über idyllische Felder, zur Schönen aus der Stadt, zum Turmrundblick mit viel Wodka im Gepäck. Das Publikum hört Doc Pichelstein auf die Finger, der einen satten Mix aus Orkan, Ruhe, Chaos, insgesamt: Gitarrenglück beschert. Begeisterungsstürme im Dezibelgrenzbereich sind spätestens zur Mitte des ersten Sets die angenehme Folge. Makarios ölt darunter fleißig geschwächte Stimmbänder und der flüssigen Kultur auf der Spur folgend, werden Plastikbecher hochprozentigen Inhalts zur Bühne tablettiert. Danke!
Weiter jagen Finger durch die Saiten, unterbrochen nur von einer 15-minütigen Verschnaufpause. Pratajevs aberwitziges Leben, seine Naturwürde strahlt auf alle ab. Glückliche wie gegessene Tiere werden nach einer Gefolge-Wanderung Thema. Ja, wer an Pratajevs Wirken kein Herz verliert, hat eh kein Herz zu verlieren. Und so geht es nach der dritten Schnapsbar, im letzten Zugabeblock, noch einmal um die Veterinäre, den letzten Schluck, dann muss es gut sein. Die Großmeister sind fertig. Doc Pichelstein legt die Holzschwert-Gitarre beiseite, Doc Makarios schleppt sich wie Tiny Tim in der Muppets Weihnachtsgeschichte in den Schatten. Kuchen wird gereicht, der leckerste Mohnkuchen, den man sich vorstellen kann. Dazu kühles Bier statt Kaffee.
Stunden später wird aus Siegurd Westernhagen in Theo gegen den Rest der Welt, werden imaginäre Podcast-Folgen aufgenommen, leert sich das Gelände unter den Augen eines zufriedenen Kiez-Chefs Christian, verabschieden sich die Docs, vermisst von Hund und Katz, auf eine erholsame Nacht in den herrlich restaurierten Pensionsräumen im Flair des 19. Jahrhunderts.