Schaumorakel im Guinness (455)

 

Guten Morgen, Rautenstock! Hallo, Oktober! Doctor Makarios spechtet früh um neun an Pichelsteins Quartierstür, der nach einem Doppelwumms wie aus dem Ei gepellt zum Hof-Rauchtreff erscheint. Zeit fürs Frühstück während der einzigen Goldenen Stunde, die dieser Samstag in petto hat. Schon beim Neubesaiten der Gitarren schieben sich Wolken vor die Fenster; als der Tourgolf das Ortausgangsschild von Doberlug-Kirchhain passiert, regnet es Hunde, Katzen und Kürbisse.

 

Heutiges Ziel der Reise: Magdeburg mit Showdown im Lion City Pub. Bis dortselbst zufriedene Freigetränkegesichter gemimt werden, dauert es allerdings noch Stunden. Stunden, gewürzt mit einer psychologisch-wertvollen Landpartie voller Opferfragen, an denen der Germanist und TV-Philosoph Richard David Precht seine wahre Freude gehabt hätte. Warum? Wieso?

 

Zum besseren Verständnis: Fragen, die mit einem „Warum“ oder „Wieso“ starten, gelten gemeinhin als kindliche Opferfragen. Erwachsene Sinnfragen beginnen hingegen mit „Wofür“ oder „Weshalb“. Im Kleinen wie Großen können damit Situation angenommen und frisch gestaltet werden. Wer sich ergo an Dingen wie: „Warum ist die Straße gesperrt?“ festbeißt, wird nie zur Lösung kommen. Im Wofür-Jargon würde man, gewürzt mit dem Erfahrungsschatz anderer Reisen durchs Brandenburgische, antworten: „Weil sie Löcher hat, in denen ganze Traktoren auf nimmer Wiedersehen samt Bauer, Frau und Hofschwein bis zum Erdkern verschwinden.

 

Im kleinen Potpourri lassen sich die doctoresken Opferfragen so zusammenfassen: „Warum fährt Pichelstein beständig an Feldwegen vorbei, an denen möglicherweise Pilze wachsen könnten?“ -„Wieso verfügen beinahe alle Dörfer zwischen Doberlug-Kirchhain und Magdeburg zwar über historische Dorfkerne, nicht aber über Landgasthöfe?“ - „Wenn schon welche auftauchen, warum öffnen die erst um 17 Uhr? Sind wir hier im Harz? “ - „Wieso besteht ein ausgeschilderter, historischer Dorfkern ausschließlich aus Halloween-Kürbissen, einer Bushaltestelle und einem eingetretenen Mülleimer“? - „Warum wachsen an Feldwegen, an denen Pichelstein tatsächlich hält, statt Pilze nur Müllhalden?“ Während nasse, schwere Eicheln aufs Autofenster prasseln und sich eine der Unterbodenplatten (nach Umweg-Buckelkilometern) schraubenweise verabschiedet.

 

Bei allem Geschimpfe über breitgereifte Förster-Jeeps in den Innenstädten: Hier gehören die Dinger wahrlich, aber ausschließlich hin. So viel zum Duft der heißen Luft, wir sind ja nicht bei LANZ.

 

Der Hunger gewinnt Überhand. Durch Sachsen-Anhalt fahrend, stellt sich eine letzte Frage im Dörfchen Jütrichau: „Wofür steht da ein Schild mit Hinweis auf eine Raststätte, die JETZT geöffnet und keine Gaststätte ist?“ – „Damit Hunger nicht böse macht.“ Reifen quietschen, Stopp. Steaks wie Hackklöpse munden. Gleich mal den lieben Angehörigen ein Foto schicken. 

 

 

 

Danach ist Magdeburg nur noch einen Makarios-Niesreiz entfernt und Pichelstein so: „Gesundheit", „Schönheit", „Reichtum", „mehr Enkelkinder“ etcpp.

 

17 Uhr Ortszeit, Magdeburg-Zentrum. In der dritten Etage des (Oktoberfestgäste-besudelten) B&b-Automatenhotels an der Otto-von-Guericke-Straße liegen die Docs separiert und platt in feilgebotenen Kinderbetten herum. Eine Stunde Ausknipszeit, dann wird der Peppone-Shuttle zum Lion City Pub erwartet.

 

Team Peppone (Bild unten) - Danke vorab Bassist Denis für diese und weitere Annehmlichkeiten, Danke an Gitarrero Normen Peppone für den bestens gesteuerten Bühnenmix. Und wo wir gerade dabei sind: Danke, harter Pub-Wirt! Bereits beim ersten feilgebotenen Guinness wird mit Blick ins Schaumorakel klar sein, dass der Abend aber so was von gelingen wird. Mit blutigen Schnellgitarrefingern und Stimmen, die am Ende nach tunlicher Ölung schmachten.

 

 

 

Noch laben sich die Docs an Maxi-Cheese-Burgern, die tatsächlich nicht zu schaffen sind, und verfolgen sporadisch den Flachbild-Heimsieg Bremens gegen Mönchengladbach. Vormusikant ist heute Hausfreund Semanski, so darf noch ein süßes Weilchen im Barhockergemüt verdaut werden. Hallo, Becherovka! 

 

Der Pub ist mittlerweile gut gefüllt, man lauscht den Alltagsgeschichten des Börde-Funny van Dannen auf verstärkter Nylonseilschaft, deckt Menschen mit T-Shirts ein, führt historiographische Pratajev-Diskussionen, signiert Platten, all das. Plötzlich: letztes Lied, Kapodaster-Zugabe, weißer Rauch steigt auf, kurze Zündschnur, beide Gitarren gestimmt, Intro läuft.  

 

Los geht’s mit dem Doctors-Reigen im ewigen Kampf gegen die Därre (Sachsenwort des Jahres, vordergründig für Durst, Trockenheit, Krise und Kälte stehend). Da hält der Wind den Atem an! Pratajevs Magdeburg-Bande lärmt voll versammelt im Rund; wer eben noch träumte, rückt krachend rein ins landrussische Paralleluniversum der 50er- und 60er-Jahre.   

 

 

 

Pichelstein legt, bestäubt vom Endorphin-Powerglitzer junger Feen, rasant los. Makarios packt jede Menge Matroschka-Puppen aus und kommt nach den ersten knapp zwei Stunden im Fetischhafen an. Dann braucht es eine Pause. Die Stahlsaiten spielen verrückt, besonders die hohe E möchte verarztet werden. Weiterzuspielen käme einer musikalischen Nahtoderfahrung gleich; nichts kann live schlimmer sein als verstimmte Gitarrensaiten. Wenn man das so mit seinem inneren Monk ausklamüsert hat. Also: Schnapsbar! Und klar: bis dato euphorische Publikumsmarodeure lechzen nach Kühlung, nach kalten Genüssen. Da geht es allen wie den Doctors, die sich im Backstage trockenrubbeln, rauchen, trinken und wenig später neuerliches, performatives Glück finden.

 

1 Gin, 2 Gin, Frohsinn. Weiter geht’s mit Personen aus Pratajevs Gefolge, mit dem Pub-Chor der „Toten Katzen“, mit allem, was einem ohne Setlist einfällt. Manch einer im Publikum sieht aus wie durch den emotionalen Wolf gedreht. So muss das sein, Wodka wird zur Bühne gereicht, vielleicht ist es auch Katzengold.   

 

 

 

Der zweite Schnapsbarwagen lenkt hinein in den Zugabeblock. Makarios gibt die Richtung vor und hat Lust auf Punksongs wie „Tasche auf, Tasche zu“. Es wird noch einmal laut, dann ist der Bums mit einem Hier-hab-ich-gelegen-Walzer zu Ende.

 

Der Nachthimmel geht auf, eine Stimme spricht: „Gesegnet sind die Langschläfer und Trägen, denn sie machen am nächsten Morgen wenigstens keinen Krach.“ Räuspern. Stille. „Und - ich habe es als Schaumorakel im Guinness gesehen: Pratajev muss den Literaturnobelpreis posthum erhalten. Falls nicht, wird der FC Magdeburg niemals mehr Deutscher Meister. Gute Nacht.“    

 

Sissi! Franz! (454)

 

Schlauer darf man es nicht beschreiben: Faulheit ist der Nährboden jeder Effizienz. Alles andere im Leben folgt der Chaostheorie.

 

Eben noch bettfertig aufgewacht, probt Doc Pichelstein rasch alle möglichen Pratajev-Weisen, wuchtet die Backline ins Auto, kurvt von Detroitnitz-Reudnitz ins Inselparadies Schleußig, klingelt Doc Makarios herbei, schon geht es über den Plagwitzer Büroumweg zur Bockwurst stadtostauswärts. Immer vorbei an den in der Immobilienwerbung gepriesenen „stilprägenden, charmanten Ecken,“ die Leipzig zweifelsohne hat. Sofern sie noch wahrnehmbar sind, denn wenn man immer hier lebt, fallen einem höchstens neue Baustellen, der von Rheuma-Ronny und Krätze-Gabi frei entsorgte Sperrmüll oder Graffiti des Sonderschulkurses „Taggen für Anfänger“ auf. 

 

Die Raben rufen „Hrbst Hrbst“, Sonne und Sprühregen wechseln sich ab, das heutige Ziel der Preußen-Reise lautet Doberlug-Kirchhain, im Süden Brandenburgs gelegen. Anlass: Sandras 50. Geburtstag; Freundin Kerstin sorgte dafür, dass die Doctoren in die Spur gebracht wurden. Danke dafür! Eine Kiste Bulbash sollte auch mitkommen, doch Frank The Tank rief: „Lieferung aus Belarus nicht eingetroffen.“ Muss am Krieg liegen oder: irgendwas ist immer.  

 

Früher als geplant geht es an weiten Feldern, saftigen Wiesen und stillen Pilz-Wäldern vorbei. Grund sind allerlei Umleitungen. Vor Taucha ist kein Durchkommen, in Wurzen herrscht Amokfehlalarm. 

 

Am Arsch vorbei ist auch ein Weg. Bundesstraßen werden zu Landstraßen und Landstraßen zu Buckelpisten. Eine Autobahn Richtung Cottbus wäre eine großartige Idee gewesen, doch was soll’s? Das eigene Wohlbefinden wird zur Chefsache erklärt, an einem begrünten Bombenkrater mit Schnitzelbrötchen in Händen pausiert. Nahaufnahme plus Brachialromantik, Indian Summer! Man könnte jetzt auf Pilzjagd gehen, ein Körbchen wartet im Auto, doch nein. Weiter geht’s bis Doberlug erreicht und Kirchhain nicht mehr weit ist.

 

 

 

Check-in im Hotel Quartier Rautenstock. Traditionsreich, barocke Baukultur, historisches Ambiente. Imposante Kronleuchter, ewige Treppen, hinter Wandglas ausgestellte Plumpsklos, rote Teppichmeere. Da fühlt man sich gleich wie ein Preußenfriedrich-Sachsenaugust oder ruft von hoch oben: „Sissi!“ ins Atrium hinein. „Franz!“ kommt zur Antwort. So proben die Docs das alles im Stillen, bevor der Party-Shuttle eintrifft, die Backline verladen und Kirchhain erreicht ist.

 

Besser gesagt, die Straße „Am Krankenhaus,“ was gleichermaßen impliziert, dass es hier ein solches Etablissement gegeben haben muss. Wahrhaftig! Ein Lost Place, zuletzt als Pflegeheim genutzt. Doch da des Nachts ständig sehr junge Schwesternschülerinnen durchs Gebäude gruselten, ergriffen die Bewohner Mitte der 90er-Jahre die Flucht mindestens bis nach Falkenberg. Laut einer bisher nicht gesagten Sage eines Radiologen, der am Sender drehte.

 

Großes Hallo bei der Begrüßung, der Mr. Technik-DJ aus Lindena hat sein Bühnenaufbauwerk bereits vollendet, Heiko zapft, Sandra strahlt, erste Gäste wiegen Rümpfe. All das in einem wohlig-warmbeheizten Gartenzelt, das man sich wie eine Oktoberfest-Miniaturausgabe vorstellen darf. Herrlich! Auf zum Soundcheck, stimmungsgeladen wird die Bühne erreicht – und da besagter Technik-DJ den Doctors bestens bekannt ist, funktioniert alles wie am Schnürchen.

 

Ehe man sich versieht, hat Heiko die Doctoren-Gläser luftleer bekommen, werden erste Platten unterschrieben, wird hier und da erzählt, füllt sich das Zelt, liegt man in Strandstühlen zur Blauen Stunde. Denn, wie eingangs schon erwähnt: Faulheit ist der Nährboden jeder Effizienz - zumindest bis Sandra den Abend mittels kleiner Rede ans Partyvolk eröffnet und einzelne Gruppen und Grüppchen vorstellt.

 

Auf ans Buffet mit Gebrüll. Hmmm. Das hat es wahrlich in sich. Krönung: Blumenkohl mit Hackfleisch überbacken. Auch ansonsten: Food Porn für jeden schlaffen Heißsporn und süßen Nachtisch obendrauf.

 

 

 

Schwerer als bei Ankunft geht’s mithilfe mehrerer Kräuterschnäpse auf die Bühne. Ein langsames Lied muss her, ein passendes: „Schwermut im Herbst.“ Wie eh und je moderiert Doctor Makarios den Pratajev-Reigen ohne Setlist, spielt sich Pichelstein dazu ein Wölfchen zart bis rasend. Nach den ersten 10 Weisen folgt zum Geburtstag die goldecksche „Samtmarie“, zwei CDs werden Sandra überreicht, unvergällten Schnaps gibt es zurück.

 

Genau genommen  gibt es ab sofort immer einen Schnaps, wenn das Wort Schnaps vorkommt. Na gut, wer die Texte der Doctors kennt, der weiß, dass davon sehr häufig die gesungene Rede ist. Denn: nicht nur im Absurden kommt man mit der Wahrheit bei Pratajev am nächsten.

 

Pause nach 1,5 Stunden. Schwitzend wie zwei Otter, euphorisch und ein wenig ausgelaugt wird die Kühle der Nacht erreicht. Am Tisch steht das nimmermüde Kollektiv der Arbeitskolleginnen. Und da die Mehrzahl von ihnen in 30 Minuten einen Zug nach Nirgendwo erreichen muss, geht’s fix munter weiter im Programm.

 

 

 

Makarios lenkt die Pratajev-Mission Richtung Fetisch-Block. „Beim Bücken“ kulminiert zum Schlager-Knockdown. Als die erste Katze am Baum hängt, tanzt das Zelt. So geht es ins Grande Finale und noch ehe der Zugabenblock zum warmherzigen, applauslauten Wunschkonzert wird, gibt’s den allerletzten Bühnenschnaps. Eines ist sicher: wenn der nächste Morgen graut, werden nicht wenige Muskelkater dort haben, wo Sport gar nicht hinkommt.

 

Auf zum Heiko an die Schnapsbar, die Koffer ins Shuttle-Auto gewuchtet, „Sissi!“ und „Franz!“ im Rautenstock gerufen. Und für Doctor Pichelstein ein nächtliches Schaumbad. Danke für die Einladung! Es war uns ein Fest.  

 

 

Unterkategorien