It’s not over before the fat Lady sings (463)

 

Roland Kaiser spielt in der Arena Leipzig. Gar nicht selten kommt es vor, dass sich der Hochverehrte im Schatten der Docs die Ehre gibt. Regelmäßig ist das etwa in Pirna zur Hofnacht der Fall, wenn die Kaisermania im benachbarten Dresden über die Elbbühne geht. Folge davon: Damenmangel, doppelt so viele Herren im Publikum. So auch heute.

 

Nach Beginn des kalendarischen Frühlings sollen Pratajevs Erben an diesem Freitag auf der NBL-Bühne erblühen, ein neuerliches emotionales Heimspiel steht bevor. Schlag 18 Uhr trifft man sich bestens gelaunt zum Soundcheck beim Techniker in der 1. Etage.

 

Alles ist wie immer; Pichelstein zieht ein wenig über die besonders in Leipzig-Plagwitz anzutreffenden, verstrahlten, Flasche-Bier-tragenden Mützenschlümpfe her, Makarios donnert stimmgewaltig ins Mikro. Nach kurzem Thinktank erhält die ältere der mitgeführten Erlenholzgitarren den Vorzug. Erstaunlicherweise klingt die heute einfach besser. Auf zur Hot Dog-Bude um die Ecke. Warum eigentlich nicht Hot Doc-Bude?

 

 

 

Bei Rückkehr wird Schichtbeginn-Rum ausgeschenkt, ein leckeres Gesöff. Noch eine Stunde bis zum Konzertstart. Die Kasse steht, binnen weniger Augenblicke ist sie proppenvoll.

 

Auf geht’s, Tabula Rasa im NBL, heilende Docs im Line-up, was soll da schief gehen? Das Publikum drängt Richtung Schnapsbar. Man sieht die Hand vor Augen kaum, so eingehüllt ist die lüftungsfreie Lage.

 

Makarios schickt Pratajev auf die Reise durchs gelobte Landleben, Pichelstein verwandelt die Gitarre in eine Bazooka und schießt los. Der Jubel ist groß, sehr groß. Erste Menschen verfallen dem Miloproschenskoje-Syndrom, das einen zügellosen Wunsch nach gebackenen Schweinen und natürlich Wodka zur Folge hat.

 

 

 

Nach 1,5 Stunden, dem Fetischblock und mit viel Aussicht auf einen glorreichen Endspurt, muss zur Pause gerufen werden. Ein englisches Sprichwort passt jetzt leider sehr gut: It’s not over before the fat Lady sings. 

 

Die Fenster bleiben zu. Pichelstein schlürft kaltes aus reichhaltigen Flaschen, Makarios trimmt sich mit reinem Tonic fit - so startet der 2. Teil. Mit einem juchzend, tanzendem Rotarmisten.

 

 

 

Pratajevs Wanderschaft beginnt. Der Satte wird mitgenommen, der Käferzähler, die Schwimmerin, das nach Schnaps stinkende Mütterchen. Viele sollten noch mit. Doch nur der Gärtner schafft es.

 

An dieser Stelle endet das Tourtagebuch. Weil das Konzert an dieser Stelle enden musste und schnelle medizinische Assistenz eintraf. Danke Ihr Lieben für die herzliche Hilfe.

 

 

Fotodank: SEB, Frau Ast

 

300 Meter durch Sibirien (462)

 

Morgens, 10 Uhr in Leipzig. Zur besten Knopperszeit probt Doc Pichelstein kühne Gitarren-Variationen. Draußen scheint die Sonne, 15 Grad zeigt das Balkonthermometer an. Eine Momentaufnahme. Tiefdruckgebiete stehen bereits Schlange, polare Kaltluft wird angesogen. Zu merken ist davon erst später. Nachdem Doc Makarios aus der Häuslichkeit gelockt, der Merch aus dem Büro geholt, Soulfood-Currywürste verdrückt wurden, der Fläming erreicht und auf der A9 schließlich einer Unwetterlage zu trotzen ist.  

 

Regen prasselt so dicht auf die Windschutzscheibe, dass Pichelstein Mühe hat, den Tourgolf in der Spur zu halten. Makarios starrt derweil missmutig auf kraftvoll arbeitende Scheibenwischblätter. Da klappt kein meditatives Rauchen unter gesenkter Seitenscheibe. Würde man diese nur leicht nach unten kurbeln, hieße das: „Tauchvorgang einleiten!“ Im Fachjargon: „Anblasen“. Hat nichts mit dem Neujahrgetue einer durstigen Feuerwehrkapelle, und gar nichts mit dem zu tun, was einem darunter fürwahr bei Google ohne Erwachsenenfilter präsentiert wird.

 

Auf der schmalen A10 lässt der Regen nach. Und da es erstaunlicherweise nur einen einzigen Stau gibt, ist das heutige Ziel Oranienburg plötzlich zum Greifen nahe. Ein Schild. Die B96 lockt. Pichelstein fährt vorbei. Makarios schaut fragend. Pichelstein zuckt mit den Schultern, denn das Navi hatte andere Pläne und nimmt erst die nächste Ausfahrt ins Visier. Merke: Einem Navi muss man gehorchen, sonst wird es zum Klaus Kinski und beginnt zu verrohen. In etwa so: „Du dumme Sau, nicht hier von der Autobahn runter, sonst schlag ich Dir in die Fresse, Du Kretin …“

 

 

 

Ankunft im Stadthotel Oranienburg an der André-Pican-Straße. Schwarz gewandet, wie die Security-Chefs von Nana Mouskouri, wird eingecheckt. Eine sehr zufriedenstellende Zimmersichtung beflügelt zur Weiterfahrt.

 

300 Meter Regenlinie von hier entfernt befindet sich der Kulturkonsum, den man ohne Umschweife als urbanen Leuchtturm kultureller Darbietungen beschreiben darf. Dahin steckt ein bestens organisiertes Kollektiv, von dem Gäste und Künstler wunderbar profitieren. So auch heute.

 

Kaum nachdem das ganze Backline-Gedöns zur Bühne geschleppt ist, gibt’s Heiß- und Kaltgetränke, läuft der Soundcheck, sitzen sich die Docs vor einem leckeren, punktgewürzten Lammeintopf im Küchenbackstage gegenüber. Stefan & Crew, zu der auch ein pensionierter Gefängnispfarrer gehört, wissen, was gut ist.

 

 

 

Satt und überraucht geht’s zurück in den Kulturkonsum, wo bereits jeder der 60 Stühle voll besetzt ist. „Wir sind ausverkauft!“ ruft ein Doc dem anderen zu; das Publikum steckt die Köpfe zusammen und schlürft bisweilen sogar Wodka. Baumfreund Ekmel und Gefolge winken aus fernen Ecken, da kann gar nichts mehr schiefgehen.

 

Einmal im Monat fährt der Kulturkonsum eine Veranstaltung hoch; die heutige wird vom pensionierten Gefängnispfarrer eloquent eröffnet. Anschließend legen die Docs los. Makarios mit sattsam bekannter Stimme, rau wie in Whiskey-Cola getränktes Pergament, Pichelstein mit einem agogischen Feuerwerk livegitarrenhaftiger Schnelltonkunst.

 

 

 

Aufgrund der Bestuhlungssituation hätte man erwartet, dass der Abend erst langsam Fahrt aufnimmt, doch es kommt erfreulicherweise ganz anders. Das Publikum zündet den Turbo und hängt der Pratajev-Geschichte an den Lippen. Quietschend vor Lachen werden die Schenkel versohlt, auch der im Land Brandenburg sehr verbreitete Herrenknuff kommt zum Einsatz. Bei „Wodka Wodka“ preist Zeremonienmeister Makarios die Doctors-Hausmarke Bulbash mit drohender Verknappung an. Schon sind alle mitgebrachten Flaschen, vier an der Zahl, vorbestellt und am Ende auch ohne Billet wegverkauft.

 

Die Konzertreise führt durchs wilde Absurdistan und ob es Pratajev denn nun tatsächlich gegeben hat, wird Novizen-Gesprächsthema in der Schnapsbar-Pause sein. Zuvor besiegt sich Pichelstein mit mentaler Riesenmanier wieder mal selbst auf der Tour de France-Gitarre zur „Harten Wirtin“.

 

Der zweite Block setzt dem Fetisch-Reigen mit dem „Baffen“ ein Krönchen auf, bevor sich das Publikum einer Reisegruppe Pratajevs anschließt. Vom „Käferzähler“ über den „Satten“ bis zum „Wanderer,“ der am Wegesende einen Baum mit toten Katzen dran vorfindet. Klar, da muss jetzt mitgesungen werden. Makarios stimmt sich den Einlass-Chor für den Tierliederblock zurecht und so wird es bis zum Schlusspfiff wild, was auch daran liegen könnte, dass unterdessen Wildkräuterfläschchen zur Bühne gereicht und stante pede verzehrt wurden.    

 

 

 

Der Applaus ist groß und gerecht. Es folgt die Nachspielzeit mit einem Wunschkonzert. Fast alles, was gerufen wird, muss gespielt werden. „Alte Henne“, „Der Raucher von Bolwerkow“, „Jägerlatein, „Schnaps und Weiber“ und vieles mehr. Deutlich angezählt erreichen die Docs die nahende Walzer-Schnapsbar und befinden schlussendlich laut wie schnell: „Der Abend ist gelungen.“

 

Rasch sind sie wieder auf dem Damm. Mittlerweile hat sich die Gegend draußen verändert. Rauchende kuscheln sich vorm Kulturkonsum eng aneinander. Der Winter macht ordentlich Werbung für sich, es stürmt und schneit. Ein großer, gehaltvoller Grappa wartet wärmend an der Bar. Sonst ist alles alle. Was es hier noch nie gab, wie in leicht bis mittelschwer angeschickerten Zuständen berichtet wird. Noch ein letztes Glas, dann soll es 300 Meter durch Sibirien Richtung Hotel gehen. Vielen lieben Dank für diesen Abend!   

 

 

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