Im Schinkenhimmel (467)

 

Summer in a nutshell. Der frühe Vogel fängt den Wurm auch ohne Kur; zur besten Siesta-Zeit brechen die Docs Richtung Brandenburg auf und müssen sich wohl oder übel mit der Leipziger Staupeitsche befassen. Wenn an einem Samstagmittag kaum was geht, wie ist das mitten in der Woche? Die Stadt wird immer voller, der Trend geht zum Zweitwagen, die Infrastruktur bleibt gleich, brüchig, lauter Baustellen. Wie man das andernorts, besonders in Berlin, unisono kennt.

 

Apropos Berlin. Nein! Nicht die Autobahn dorthin mit Abzweigen nehmen, noch mehr Stillstand droht. Stattdessen geht’s ab Taucha über Land, über die B 87. Alles richtig gemacht. Mit Iron Man Frank „The Tank“ Förster an Bord, denn der ist heute tatsächlich, glücklicherweise wieder mit von der Partie und lernt sogleich die Andy Borg-Schlagershow-Plakate am Wegesrand auswendig zum Mitsingen. Ohne die Kapelle Barbiepuppendildo zu erwähnen, denn die muss noch gegründet werden.  

 

Die B 87 ist eine Art grün-hölzernes Marvel-Universum, voller Superhelden, rasender Bösewichte und verhungerter Autoren, deren Auftrag es war, kulinarisch wertvolle Reiseliteraturführer zu schreiben. Für weite Teile der Strecke gilt: Breakfast to go, Kaffee und Kippe reichen.  

 

 

 

Fragen müssen mittenmang blitzergeschmückter Ortseingangs- und Ausgangsschilder geklärt werden. Tiefsinnige Fragen, geschuldet sinnloser Alltagsinformationen, die aus unerfindlichen Gründen haften bleiben. Zum Beispiel diese hier: Warum im Namen des dicksten Preußenkönigs soll eine Insta-Influencerin ihren „Rammstein“ genannten Kater umbenennen? (Wer bitte nennt seinen Kater Rammstein?) Shitstürme zogen deswegen unlängst durchs Netz; mehrheitlich forderte Volkes Minimalisten-Zorn die Umbenennung. Erdachte Schlagzeilen: Influencerin schwer in der Bredouille. Sollte der Kater nicht gleich in "Hitlers Peniskanone" umbenannt werden? Makarios rätselt. Alle rätseln. Schließlich Makarios (kein Insta in petto, kaum gar nichts aus dem APP-Reich): „Ich würde einen Shitsturm gar nicht mitbekommen.“ Alte Schule, alte, weise Schule, ur-analoge Gemütsruhe.

 

So rollt der Tourgolf weiter, hält reflexartig an Bockwurstversorgungen, stoppt für Pullerpausen - oder anders genannt: Feldstudien an Feldrändern. Bis es nach drei Stunden Fahrt heißt: Sei umschlungen, Birkholz. Gib mir die Hand, ich bau dir ein Schloss aus Pfand.

 

Parkplatz vorm Bunten Salon. Kalf und Chrissis Perle de Luxe, mitten im Ortskern von Birkholz. Kulturtreff, CoWorkingSpace mit Tante-Emma-Funktion, Bulbash-Ausschank. Mit fleißigen Händen renoviert, im Herzen bereits als Weltkulturerbe Brandenburgs ausgezeichnet.   

 

 

Große Botschaften wie diese brauchen die Kraft Pratajevs, so dürfen die Docs heute, am ersten Salongeburtstag, aufspielen. Zuvor ist die Wiedersehensfreude groß, denn Birkholz ist nur einmal im Jahr (Corona verhagelte alle Statistiken).

 

Ländliche Willkommensbezeugung geht so: Den Docs wird ein zum Zopf geflochtenes Katzenfell überreicht, nach Ende der Durststrecke kräht laut der Zapfhahn. Doctors schlürfen dankbar, brezeln sich auf und schütteln die Swings aus den Hemdsärmeln. Auf zur zeltüberdachten Bühne, zum Soundcheck.

 

 

 

Angebrachtes Sprichwort: „Wie man sich bettet, so schläft man.“ Bedeutet musikalisch: Wie man soundcheckt, so spielt man - und ist letzthin für die Folgen seines Tuns selbst verantwortlich. Mit maximaler, wenn auch feuchtfröhlicher Schwitzegeduld bei 28 Grad, werden Kabel gesteckt, korrigiert, friemelt Pichelstein hier, Markarios dort, Kalf rettet die Lage mit ungeahnten Glückszaubergriffen. Endlich: Sound aus dem Monitor, Sound ohne Hall aus den Boxen. Noch rasch ein paar vergessene Lieder gespielt und ab dafür.

 

Es gibt Suppe. Wenn auch ohne Tausend Nudeln, so doch mit Birkholzer Feld-und Wiesenallerlei; die Doc tauchen gerne mit dem Löffel aus Holz ins leckere Nass, während die Sonne überm Birkholzer Schinkenhimmel wie ein glückliches Emoji am Himmel strahlt.

 

 

 

Los geht’s. Die Bierbänke-Wogen schlagen gleich nach den ersten Pratajev-Takten hoch. Schnell ist allen klar: Der Abend wird zur positiven Lehrstunde des sozialen Miteinanders. So ein Glück, mit ganz viel Bulbash zwischendurch. Frank „The Tank“ aka Fürst Fedja liefert aus. Von der Cocktailbar bis zur Bühne bildet sich ein hübscher Trampelpfad auf dem mit Pfadfindercharme fleißig Karmapunkte zu sammeln sind.

 

Wie bei jedem Doctors-Konzert gilt: Das Leben ist bloß eine kurze Reise, genieße sie, wann und wo, bestenfalls mit Pratajevs Hits, die ihren ersten Siedepunkt vorm Pausenknall erreichen. Da sind bereits 1,5 Stunden gespielt, Flaschen und Fässer geleert.

 

 

 

Umgarnt vom lieblichen Gesang der Wacholderdrossel, dem Plärren aller Spatzengeschwader, geht’s gestärkt weiter. Makarios führt die Personalie Pratajevs direkt in den Fetischblock, Eademakow, Paschka Parlierowna, all die anderen lächeln fein, wissend und textsicher. Flatterhafte Spontantänze entstehen, die im Chor der Toten Katzen kulminieren. Pichelstein macht den Chuck Norris, spritzt sich eine Kanne Öl in den Bizeps und setzt das Bühnenrund gitarreschwingend unter kreischenden Dampf.

 

 

 

Es wird gejohlt, gefeiert, ein erster Zugabeblock erreicht. Damit nicht genug. Ein zweiter, ein dritter folgt. Tasche auf, Tasche zu … all das. Bis letzte Löcher im Strumpf zum Abend, der gelungen ist, führen - und eine Walzer-Schnapsbar dem ganzen Treiben ein zumindest musikalisches Ende bei heiserer Hysterie setzt.

 

Sitzen. Platten, CDs unterschreiben, Pratajev-Bücher verzieren. Insgeheim schon vom Liegen träumen, vom Polenmarkt hinter Cottbus und Forst, doch das steht alles noch an. Bis dahin ein Lob und eine Liebe aufs Hier und Jetzt.  

 

     

 

Foto-Danke: Frank "The Tank" & Bunter Salon

 

 

Schöffen auf dem Weg zum Skatgericht (466)

 

Das nennen wir mal eine artistische Sensation. Wer es binnen weniger Wochen schafft, ein wochenendüberspannendes Literaturfestival aus dem Boden zu stampfen, hat jede Hochachtung verdient. Aber so ist das mit den Fördermitteln, sie hängen an kalendarischen Deadlines. Wer darüber hinaus veranstaltet, geht leer aus. Umso dankbarer sind die Doctoren, dass heute „Hinter den Fassaden“ stattfindet, powered by Constance Böhme, David Gray aka Ulf Torreck und M. Kruppe.

 

Manche Tage fühlen sich wie ein kleiner Urlaub an. Heute ist so einer. Ohne vom Liegestuhl zum Pool zu stolpern, unter tröpfelnder Nachmittagsdemse. Der Tourgolf startet; mit Grünauer Tankstellenwürsten unterm Hemd geht’s gen Altenburg. Das Helms Klamm Thüringens, hoch gelegen, steil gebaut, alte Gemäuer, neues Leben.

 

Um nicht erneut dem Club der teuer Erleuchteten anzugehören, befolgt Doc Pichelstein jede Geschwindigkeitsempfehlung - was für Verkehrsteilnehmer mit negativem Intelligenztest allerdings so aussieht, als hätten sich zwei honorige, langsam denkende Schöffen auf dem Weg zum Skatgericht gemacht. Wo doch die Autobahn zugunsten meist staubefreiter Bundesstraßen umfahren wird.

 

 

 

Angekommen im Casino am Roßplan, führt M. Kruppe den Pratajev-Tross ins Innere einer beeindruckenden Fassade. Man spürt subito die Historie dieses ältesten Wirtshauses Altenburgs, Baujahr 1938, in dem sich einst angesehene Bürger mit Schnaps und Torten bewarfen. 2017 dann der Dornröschenschlaf, vier Jahre später nahm sich ein Verein der Lage an; seither gibt’s portionierten Zugang für alle. So ein Glück.

 

Der heutige Arbeitsplatz gemahnt an eine Wohnstubenszene aus Pratajevs Oper „Der schwarze Stuhl“. Wurstdosen werden als harte Thüringer Währung gereicht, Kaltgetränke, im Backstage ist eine hübsch beladende Bar verortet.

 

 

 

Bevor daraus Dynamit geangelt wird, folgt der akribische Soundcheck, ein Ritt zum Catering, treffen sich Satire, Gosse und Avantgarde auf Augenhöhe. Kulturbeflissene Menschen, Nachbarn, deren Garage im Innenhof verortet ist, füllen die gute Stube. Erster Tagespunkt: Ein Thema (Underground DDR/BRD), ein Talk, ein Moderator, Christoph Meueler, gesamt vier auf einer Bühne. Darunter: Doctor Pichelstein mit stetem Lächeln und weisen Sätzen. Es folgt: ein Leseblock. Jeder der Talkenden spricht runde 30 Minuten ins Mikrofon. Florian Günther, Sascha Anderson, Doc Pichelstein als Social Beatnik Frank Bröker.

 

Pause. Das Casino füllt sich bis zum Rand. Los geht die Pratajev-Show, moderiert von Doc Makarios, gitarrisiert von Doc Pichelstein. Mit herrlichsten, von M. Kruppe poetisch veredelt vorgetragenen Texten des größten aller unbekannten, russischen Landdichters. Eine Stunde lang, ohne Pause: Nichts als tragische Kurzzeitromantik in unverwüstlicher Präsenz.

 

 

 

Die Docs feuern ein Best-of-Landleben ab, Pichelstein macht den Uri Geller, zaubert die Schönen aus der Stadt, während unten im Publikum bewusste und noch unbewusste Pratajev Circle-Members jubeln, lachen. Wow, das macht Spaß.  

  

Letztes Lied, Abgang Doctors; wie ein Engel aus einem Stummfilm erscheint als nächste Linda Gundermann im Bühnenwohnzimmer. Begleitet von einer Zartsaiten-Gitarristin werden in Bälde zauberhafte Chansons zum Besten gegeben. Pichelstein vergräbt rasch die Backline ins Kofferwerk und folgt schlussendlich Makarios an die Schnapsbar, eine mit ganz langer Leitung.

 

 

 

So vergehen die Stunden bei Gesprächen über die Liebe, den Lebenshunger. Es geht um Krankheiten, mit denen man angeben kann (oder nicht), um zerklüftete Identitäten, autistisch anmutende Katzen und geplante Privatpartys. Insgesamt ein bis in den frühen Morgen laufendes Best-Case-Szenario. Спасибо большое!

 

Sieben Minuten sind es fußläufig von hier aus bis zum Hotel, wo beim ersten Spatzenschrei der neue Dresscode Bettdecke lauten soll. Dreifach so viele Minuten werden es mindestens. Was sich am Ende keiner erklären kann. Auch die Spatzen nicht.

 

Foto-Danke:

1&3: Jens Pasemann

2: Claudia Laßlop

4: Ives Zander

 

 

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