tour_tagebuch
Ein bisschen Letterkenny (481)
Pusten wir uns eine Dosis Herbstkonfetti ins Leben, der Sommer ist Geschichte und Ende September die Zeit der beginnenden Oktoberfeste. Drehbuch eingewebter Gedanken dazu: Getränke teuer, Gäste billig, bekotzte, bepisste Lederhosen und Dirndl, komatöse Quickies, alles nachgerade pfui und live auf Social Media. Da wirst du doch meschugge. Der Brauch stammt aus Bayern, die ganze Republik macht als Ersatzteillager mit. Die ganze? Nein! Eine herrliche Solidarische Landwirtschaft in Weißenfels, OT Langendorf, feiert lieber Erntedank zum fünfjährigen Bestehen. Das ist sehr gut so, dafür hat sich jeder Beteiligte einen blinkenden Paillettensack voller Liebe verdient.
Was macht eine Solidarische Landwirtschaft? Gemeinsam wird ökologisch, fair wie nachhaltig Obst und Gemüse angebaut, der Ernteertrag untereinander geteilt. Es gibt passive wie aktive Mitglieder; letztere ackern, ernten und organisieren zum Beispiel den Anlass der heutigen Docs-Dienstreise. All das findet auf dem Gelände einer lang stillgelegten Gärtnerei statt, in der Weißenfelser Gemarkung Langendorf, einer dieser von der hektischen Weltgeschwindigkeit völlig unterschätzten Orte. Vergleiche mit der kanadischen Kult-Serie Letterkenny (die Doctor Pichelstein ehrlicherweise, so sicher wie Gott Sandalen hat über die Maßen schätzt) sind nicht von der Hand zu weisen. Runter vom Kreuz, wir brauchen das Holz!
Mit Maik stand man schon länger in Kontakt, ist er es auch, der die Docs ins dorfkirchenumgebende Gelände einweist, mit Theken-Bändchen und Kaltgetränken beglückt. Bei so viel Glockenschlag können die Wolken am Himmel nur gesegnet sein. Regnen somit nur, wenn sie sollen. Ein Glück, was den ganzen Abend anhalten wird. Denn die anhängergestützte Bühne, auf der sich gerade eine Schulkapelle Bestnoten verdient, hat zwar Planenwände - aber kein Dach. Es pfeift der Wind, was er darf, denn es ist ja seine Jahreszeit.
Lecker wird’s. Makarios tischt Pichelstein erbeutete Heißkartoffeln mit Kräuterquark auf. Der rachitisch hustende Gitarrendoctor langt kräftig zu. Verschleppte Erkältung lautet die Diagnose, ab und zu ein Schluck Bromhexin die Therapie.
Auf der Bühne geht’s mit einer Band der Hallenser Schule weiter. Kleingeschriebene „schattenmorellen“ sorgen für kosmische Landschaften in Zeiten der Polikrisen. Knackige E-Gitarre, mit Tasten harmonierend, sattes Schlagzeug, unschuldiger Gesang. Gemahnt ein wenig an „Willkommen zuhause Laika“ und das möchte als Kompliment verstanden werden.
Gegen 22 Uhr naht die Pratajev-Showtime. Vor der Bühne gibt’s noch eine bravouröse Tanzeinlage, während fleißige Helfer-Elfen die Backline für den Line-Check zur Bühne wuchten. 20 Minuten später kündigt die Vereinschefin höchstselbst die Docs an, schallt das Intro übers solidarische Land. Alles hühnert bereits mit den Füßen. „Da hält der Wind den Atem an!“
Dampfradioschocker Pichelstein brennt sogleich ein Gitarrenfeuerwerk ab, Bromhexin ölt die Stimme, Makarios diktiert das Set, die Ernte-Dank-Pratajev-Jagd muss heute ohne Pause auskommen. Gereicht wird mittenmang Selbstgebranntes aus der Flasche, schmeckt nussig-vorzüglich. Ja, nicht nur im Wald stehen die Glückspilze, auch die Docs sind welche. Und dass der heutige Schnellgitarrenweltrekordversuch letzthin wegen Bromhexin-Doping aberkannt wird, geschenkt. Da kennt Scharfrichter Makarios kein Erbarmen und duldet kein Lamentieren. Doc Pi senkt’s Köpfchen, nippt vom Selbstgebranntem und nickt beflissen.
Ein Geysir der hellsten Freude tut sich unter Maiks Sprüh-Pyro-Show bei „Genieße jede Stund“ auf. Rammstein kann einpacken. Eindeutig! Beziehungsweise: Ehrlicherweise.
Filous tanzen, hüpfen, springen zehnlagrig, mehrheitlich wird gar beim „Gärtner“ mitgesungen. Dann naht sie nach knapp zwei Stunden, die Pratajev-Dämmerung, beginnend mit der ersten Schnapsbar. Doch die Doctoren wären nicht die Doctoren, würden sie das Publikum nicht mit einer randvollen Gemüsekiste voller Zusatzlieder versorgen können. Man einigt sich auf im Set bisher vergessene Hits, auf Raritäten und macht schlussendlich mit der Walzerkönig-Schnapsbar den berühmten Deckel drauf.
Danke, Solawi! Abgang von der Bühne, Abbau derselben, warme Sachen nach Doktor Schiwago meets Peaky Blinders-Art (ohne Mützen) anziehen, Kaltgetränke schnabulieren und irgendwann zur Herberge wandern, wo Doctor Pichelstein, gedopt von und an sich selbst, im Heißwasser einer sehr großen Badewanne Kreise zieht und gegen Ballontiere kämpft. Over and out.
Habt Ihr ein Doppelzimmer? (480)
Ein Hochsommerfinale bei 32 Grad, rund um den Brocken im Naturschutzgebiet Harz brennt es. Auf geht’s zur neuerlichen Mission Magdeburg. Natürlich ins Bluenote. Wo das Beste für selbstverständlich erachtet wird, die harte Buffet-Göttin (aka Wirtin) Jule heißt, wo Gemütlichkeit, beste Drinks und ein schöner Sound jedes Konzert veredeln. Nice! Oder wie der Musiker im Stile wahrlicher Anglizismen orakelt: Noise!
Zuletzt gastierten die Docs drei Monate nach dem 2. Corona-Lockdown an selber Stelle. Schon damals lockte Carstens (nachgefeierter) Geburtstag den Pratajev-Tross zum wandbeschmierten Lessingplatz. Heute ist es genauso. Nur, dass der Ehrentag diesmal passgenauer stattfinden darf. In schöner Gegend, die vom architektonischen Brutalismus-Style weniger geprägt ist.
Lauter gute Dinge geschehen. Kein Stau auf der A14, keiner im Herzen Stadtfelds. Bei Ankunft der Docs gegen 17:30 Uhr sind noch genau zwei Parkplätze am Bluenote frei. Rasch keiner mehr, was die Frage: „Fahren wir vorm Konzert noch zum Hotel-Check-in?“ ad absurdum führt.
Sicher geparkt ist halb gewonnen. Außerdem liegt das Best Western Hotel Geheimer Rat (zurückzuführen auf Goethe, einst Weimarer Staatsminister, ergo Geheimrat) nur 11 Minuten Fußweg entfernt. „Um die Ecke“, wie der Berliner räsonieren würde, liegt es glücklicherweise nicht. Denn mit „um die Ecke“ ist in der Hauptstadt immerzu ein mehrstündiger Marsch mit sehr vielen ungeplanten Ausruhstopps gemeint. Schon oft und leidlich erlebt. Irgendwo am Horizont muss sie immer sein, die Berliner Unterkunft. Oder dahinter.
Der Bluenote-Soundcheck ist ein Gedicht für die Hooligans pratajevscher Inbrunst. Zugegeben, ein schweißtreibendes. Carsten und Pichelstein wuchten die Bühne zurecht, Kaltgetränke fließen. Kaum ist das Glas halbleer, steht stante pede ein volles daneben. Man kann einfach nur ehrfürchtig Danke sagen und das andauernd. Im Check gibt’s wie eh und je zuletzt kaum gespielte Lieder. Damit sie halt nicht in Vergessenheit geraten. Von „Mich wundert gar nichts mehr“ bis zum „Gelben Fettfrosch“.
Zufriedenheit obsiegt, rasch raus in den Windhauch, denn der Wind bringt Grillaroma mit sich und der beste Tierfreund ist bekanntlich ein guter Grillmeister. Unter den Klängen der unplugged-Vorband lädt er zu sich ein, belädt das Buffet, das gastvolle Bluenote schnuppert Glück. Hier ist jeder gern vom Stamme Nimm. Jules Salate sind mystisch. Das dazu gereichte Radieschenblätter-Pesto hat es den Docs besonders angetan, sie betteln nach dem Rezept. Merke: Das süße Leben verlangt mehr als einen Schuss Maggi Würze auf schlecht schimmelndem Industriebrot.
Einige eh dem Spätsommertod geweihte Wespen werden liquidiert, ertränkt. Gut so, denn mit Stichen an Händen lässt sich ungleich schwerer Gitarre spielen. Der leicht übersättigte Doctor Pichelstein will gut beschützt sein.
Flink wie zehn Stichlinge legt er wenig später los. „Da hält der Wind den Atem an!“ Wie vor drei Jahren wird die Tanzfläche zum leichten Jubelgeläuf, führt Doctor Makarios durchs Landleben Pratajevs. Augenblicklich müssen die Gläser bei „Wodka Wodka“ und „Jeder Schluck“ nachbegossen werden. Runde um Runde schwitzen die Docs gereichte Handtücher voll, fangen nicht unbedingt isotonische Kaltgetränke den Flüssigkeitsverlust wieder auf.
Viele Gitarristen sehen im zoologisch anmutenden Minenspiel stets so aus, als wären sie gerade beim Zwiebeln schneiden. Extremsportler Pichelstein kann darüber nur lächeln und funkelt lieber aus den Augen. Da können alle Sterne einpacken. Besonders im Fetisch-Block, beim Howie-Bücken, beim „Baffen“, bei der „Harten Wirtin“. Obschon die nächste Zündstufe im Schnellgitarrespielen heute temperaturbedingt ausfallen muss.
Schnapsbar Nummer 1. Und wie wir alle wissen, ist 1 eine einsame Zahl, die nach Addition verlangt.
Sagen wir es mit Groschenromanworten: Ehe man sich versieht, ist die erste Konzertstunde nur noch eine schöne Erinnerung. Schmetterlinge der Nacht umschwärmen Laternen, honorige Doctoren gleiten mürbe in prächtige Außenstuhle hinein. Neugierige, gerne radfahrende (keine E-Bikes!) Schwesternschülerinnen stellen beiläufige, nicht uninteressante Fragen. Eine lautet: „Habt Ihr ein Doppelzimmer?“
Nach vielerlei Antworten und zwanzig brandenburgischen Minuten geht’s weiter mit „Fürchte dich nicht vor der Flasche,“ überleitend zu Pratajevs Gefolge. Zum „Faulen“, zum „Wanderer“, dem „Satten“, dem „Gärtner“, dem „Käferzähler“ und wie sie alle heißen. Es folgt die Tiere-Runde unter Mitsinggarantie, geschlossen wird die Terrassentür (wegen der Nachbarn). Das Innenthermometer schwillt auf gefühlt 40 Grad an.
Unter großem Getöse retten sich tropfende Docs in den Zugabeblock und später tapfer, überschwänglich an die Schnapsbar. Im Gin liegt Tonic und vor allem sehr kaltes Eis. Bestens geeignet gegen Hitze und Schweiß. Danke, lieber Carsten, danke liebes Bluenote.
PS: Die Doctoren hatten kein Doppelzimmer
Fotos: Mina Sommer