Turnvater Jahn hätte seine wahre Freude dran gehabt (468)

 

Zwischen den Jahren kann es nichts Besseres geben, als ein Konzert für die Zunge. Ein neuerliches Bulbash Masters Special, ausgefochten in der Westwerk-Stallwache. Natürlich mit Pratajevs Vorlese-Agitator M. Kruppe. Eine Konzertlesung in Raunächte-Zeiten, da bleibt kein verbrannter Wunsch unerfüllt.

 

Um 19 Uhr öffnet sich die stählerne Tür; das wodkalastige Hochamt ist seit Wochen ausverkauft. Bedeutet: Jegliches Herrichten der Bühnenecke sollte bis dahin erledigt sein. M. Kruppe und Doc Pichelstein stemmen noch rasch ein paar Hanteln (oder Biere) und legen los.

 

 

Schon der Alltag verlangt ergründete Kunststücke ab, das Sahnehäubchen des frühen Abends ist jedoch ein gelungener Soundcheck. Erst recht, wenn man dafür nicht Mäusekino auf dem Telefon schauen muss. Alles schon erlebt, filmische Anleitungen für Anlagen zur Beschallung des Publikums werden eben in der YouTube-Akademie produziert.   

 

 

Keine Bierquälerei mit Mischgetränken! Erste Menschen stehen in der Stallwache und werden mit Bulbash-Brettern notversorgt. Fürst Fedjas Zauber strahlt auf alle über. Auf die Pratajev-Hautevolee-Fraktionen von Lichtenstein-Chemnitz über Berlin bis Nürnberg. Der imaginäre Pokal der weitesten Anreise wird einer Rostocker Reisegruppe übergeholfen.

 

Man talkt hier, schnattert dort, Vorsätze fürs neue Jahr werden mit dem Anfangssatz „Die Unvernunft ist meist die schönere Alternative“ begonnen. Im offenen Backstagebereich tauchen Pizzen mit Salamischeiben unter zerlaufenem Käse auf. Und da der Personal Trainer der Docs ein fauler Kater ist, dürfen die Kartons getrost leergefuttert werden. Jasper Fryth, erneuter Bildschöpfer des aktuellen Russian Doctors-Kalenders, hilft fleißig mit. 

 

 

Apropos Kalender: im Laufe des Abends werden die letzten fünf (von 100 gedruckten) an den Mann, an die Frau gebracht. Somit ist es den Docs auch möglich, eine Spende im fast mittleren, dreistelligen Bereich für die Wohltaten freiwilliger Ärzte in Krisenregionen zu überlassen. Es gibt ja, neben den Russian Docs, auch echte Ärzte, und das ist sehr gut so. Ob es allerdings auch falsche Schwesternschülerinnen gibt, ist nicht bekannt. Dafür gibt es wiederum leckeres Vierbeingemüse und mit Sicherheit fallen im Frühsommer deshalb Sätze wie dieser hier: „Ach du Schreck, der Winterspeck.“

 

Los geht’s, gleich halb neun. M. Kruppe und die Doctoren springen in die Bühnenecke, Turnvater Jahn hätte seine wahre Freude dran gehabt. Keine Fliehkräfte bringen sie ins Straucheln.

 

Makarios‘ Stimme begrüßt alle tonsicher mit gewohnt dunklem Timbre. Die Löcher-im-Strumpf-, die Holzlöffel-Fraktionen applaudieren und der Wind hält den Atem bis zum Ende der ersten Klangrunde an. Staffelstab an M. Kruppe. Es regnen, es stürmen die Weisen Pratajevs aus den Boxen und kulminieren zur Gefrierkatastrophe von Bolwerkow. Antwort der Doctoren darauf: „Als das Eis kam (so plötzlich).“

 

 

Und so geht es hin und so geht es her, der Weg zur Schnapsbar ist verbaut. Selbst Dominas könnten sich schwerlich dorthin durchschlagen. Also schreibt Doc Pichelstein Fürst Fedja eine WhatsApp. Inhalt: „Benötigt wird Bier, dazu mehr als eine Handbreit Wodka.“     

 

Noch ehe „Jeder Schluck“ aus den Boxen kommt, wird die Bühne befüllt. Und nicht nur die. Es darf gejohlt, getanzt, mitgesungen werden. Da kein Platz mehr für Monitorboxen war, müssen die Docs auf die erste, recht schwankende Sangesreihe zurückgreifen.

 

 

 

Zur letzten Lesung vor der Pause holt M. Kruppe den Kinski raus, rasch herrscht Ruhe. Noch ein Fetischblock, dann Pause. Reißt die Bengalos an der Bar an, die Docs kommen. Zunächst sollen aber noch Plakate und Platten signiert werden. Gerne. 

 

Am Ende des Pausenweges geht es mit aller Macht weiter. Mittlerweile darf das im Nachgang geführte Motto längst lauten: „Wer sich erinnert, war nicht dabei.“

 


 

Was war noch alles? Zum Schluss gab es einen herzzerreißenden Heiratsantrag am Mikro, so viel ist sicher. Es wurde tatsächlich „Ja“ gesagt. Also glücklicherweise nicht das, was bei Roland Kaiser zu erwarten gewesen wäre („Warum hast du nicht nein gesagt?"). Davor kokettierte M. Kruppe mit dem Pratajev-Alphabet, Pichelstein erklärte die Schnell-Akustik-Gitarren-Magie so: „Du musst lernen zu denken, wie eine Gitarre denkt.“ Während weiterhin gottlose Mengen an Wodka mit Fürst-Fedja-Gönnung die Runde machten.

 

Der de Luxe-Teil des musikalischen Zugabeblocks begann mit dem „Verzerrten Mund“ oder mit „Löchern im Strumpf“. Auf jeden Fall war eine „Tasche“ dabei. Eine „Schnapsbar“, doch keine einzige Katze, was selten vorkommt. Dafür am allerletzten Ende: „Geh heme meine Kleene,“ was noch seltener vorkommt, aber den Standpunkt der frühen Nacht auf den Punkt beamt. Schweißnass, diebisch-herrlich vergnügt.

 

Danke für dieses Konzertfinale eines nicht einfachen Jahres. Danke M. Kruppe, Du literarischer Superspreader pratajevscher Weisen. Danke Fürst Fedja, edler Ritter der Cocktail-Kokosnuss-Runde. Danke, liebe Pratajev-Dudes, Freunde der Russian Doctors, wir sehen uns im nächsten Jahr.       

 

 

Bilder: Der Pasemann, Frau Ast, SEB, Claudia Hilgers

 

 

Im Schinkenhimmel (467)

 

Summer in a nutshell. Der frühe Vogel fängt den Wurm auch ohne Kur; zur besten Siesta-Zeit brechen die Docs Richtung Brandenburg auf und müssen sich wohl oder übel mit der Leipziger Staupeitsche befassen. Wenn an einem Samstagmittag kaum was geht, wie ist das mitten in der Woche? Die Stadt wird immer voller, der Trend geht zum Zweitwagen, die Infrastruktur bleibt gleich, brüchig, lauter Baustellen. Wie man das andernorts, besonders in Berlin, unisono kennt.

 

Apropos Berlin. Nein! Nicht die Autobahn dorthin mit Abzweigen nehmen, noch mehr Stillstand droht. Stattdessen geht’s ab Taucha über Land, über die B 87. Alles richtig gemacht. Mit Iron Man Frank „The Tank“ Förster an Bord, denn der ist heute tatsächlich, glücklicherweise wieder mit von der Partie und lernt sogleich die Andy Borg-Schlagershow-Plakate am Wegesrand auswendig zum Mitsingen. Ohne die Kapelle Barbiepuppendildo zu erwähnen, denn die muss noch gegründet werden.  

 

Die B 87 ist eine Art grün-hölzernes Marvel-Universum, voller Superhelden, rasender Bösewichte und verhungerter Autoren, deren Auftrag es war, kulinarisch wertvolle Reiseliteraturführer zu schreiben. Für weite Teile der Strecke gilt: Breakfast to go, Kaffee und Kippe reichen.  

 

 

 

Fragen müssen mittenmang blitzergeschmückter Ortseingangs- und Ausgangsschilder geklärt werden. Tiefsinnige Fragen, geschuldet sinnloser Alltagsinformationen, die aus unerfindlichen Gründen haften bleiben. Zum Beispiel diese hier: Warum im Namen des dicksten Preußenkönigs soll eine Insta-Influencerin ihren „Rammstein“ genannten Kater umbenennen? (Wer bitte nennt seinen Kater Rammstein?) Shitstürme zogen deswegen unlängst durchs Netz; mehrheitlich forderte Volkes Minimalisten-Zorn die Umbenennung. Erdachte Schlagzeilen: Influencerin schwer in der Bredouille. Sollte der Kater nicht gleich in "Hitlers Peniskanone" umbenannt werden? Makarios rätselt. Alle rätseln. Schließlich Makarios (kein Insta in petto, kaum gar nichts aus dem APP-Reich): „Ich würde einen Shitsturm gar nicht mitbekommen.“ Alte Schule, alte, weise Schule, ur-analoge Gemütsruhe.

 

So rollt der Tourgolf weiter, hält reflexartig an Bockwurstversorgungen, stoppt für Pullerpausen - oder anders genannt: Feldstudien an Feldrändern. Bis es nach drei Stunden Fahrt heißt: Sei umschlungen, Birkholz. Gib mir die Hand, ich bau dir ein Schloss aus Pfand.

 

Parkplatz vorm Bunten Salon. Kalf und Chrissis Perle de Luxe, mitten im Ortskern von Birkholz. Kulturtreff, CoWorkingSpace mit Tante-Emma-Funktion, Bulbash-Ausschank. Mit fleißigen Händen renoviert, im Herzen bereits als Weltkulturerbe Brandenburgs ausgezeichnet.   

 

 

Große Botschaften wie diese brauchen die Kraft Pratajevs, so dürfen die Docs heute, am ersten Salongeburtstag, aufspielen. Zuvor ist die Wiedersehensfreude groß, denn Birkholz ist nur einmal im Jahr (Corona verhagelte alle Statistiken).

 

Ländliche Willkommensbezeugung geht so: Den Docs wird ein zum Zopf geflochtenes Katzenfell überreicht, nach Ende der Durststrecke kräht laut der Zapfhahn. Doctors schlürfen dankbar, brezeln sich auf und schütteln die Swings aus den Hemdsärmeln. Auf zur zeltüberdachten Bühne, zum Soundcheck.

 

 

 

Angebrachtes Sprichwort: „Wie man sich bettet, so schläft man.“ Bedeutet musikalisch: Wie man soundcheckt, so spielt man - und ist letzthin für die Folgen seines Tuns selbst verantwortlich. Mit maximaler, wenn auch feuchtfröhlicher Schwitzegeduld bei 28 Grad, werden Kabel gesteckt, korrigiert, friemelt Pichelstein hier, Markarios dort, Kalf rettet die Lage mit ungeahnten Glückszaubergriffen. Endlich: Sound aus dem Monitor, Sound ohne Hall aus den Boxen. Noch rasch ein paar vergessene Lieder gespielt und ab dafür.

 

Es gibt Suppe. Wenn auch ohne Tausend Nudeln, so doch mit Birkholzer Feld-und Wiesenallerlei; die Doc tauchen gerne mit dem Löffel aus Holz ins leckere Nass, während die Sonne überm Birkholzer Schinkenhimmel wie ein glückliches Emoji am Himmel strahlt.

 

 

 

Los geht’s. Die Bierbänke-Wogen schlagen gleich nach den ersten Pratajev-Takten hoch. Schnell ist allen klar: Der Abend wird zur positiven Lehrstunde des sozialen Miteinanders. So ein Glück, mit ganz viel Bulbash zwischendurch. Frank „The Tank“ aka Fürst Fedja liefert aus. Von der Cocktailbar bis zur Bühne bildet sich ein hübscher Trampelpfad auf dem mit Pfadfindercharme fleißig Karmapunkte zu sammeln sind.

 

Wie bei jedem Doctors-Konzert gilt: Das Leben ist bloß eine kurze Reise, genieße sie, wann und wo, bestenfalls mit Pratajevs Hits, die ihren ersten Siedepunkt vorm Pausenknall erreichen. Da sind bereits 1,5 Stunden gespielt, Flaschen und Fässer geleert.

 

 

 

Umgarnt vom lieblichen Gesang der Wacholderdrossel, dem Plärren aller Spatzengeschwader, geht’s gestärkt weiter. Makarios führt die Personalie Pratajevs direkt in den Fetischblock, Eademakow, Paschka Parlierowna, all die anderen lächeln fein, wissend und textsicher. Flatterhafte Spontantänze entstehen, die im Chor der Toten Katzen kulminieren. Pichelstein macht den Chuck Norris, spritzt sich eine Kanne Öl in den Bizeps und setzt das Bühnenrund gitarreschwingend unter kreischenden Dampf.

 

 

 

Es wird gejohlt, gefeiert, ein erster Zugabeblock erreicht. Damit nicht genug. Ein zweiter, ein dritter folgt. Tasche auf, Tasche zu … all das. Bis letzte Löcher im Strumpf zum Abend, der gelungen ist, führen - und eine Walzer-Schnapsbar dem ganzen Treiben ein zumindest musikalisches Ende bei heiserer Hysterie setzt.

 

Sitzen. Platten, CDs unterschreiben, Pratajev-Bücher verzieren. Insgeheim schon vom Liegen träumen, vom Polenmarkt hinter Cottbus und Forst, doch das steht alles noch an. Bis dahin ein Lob und eine Liebe aufs Hier und Jetzt.  

 

     

 

Foto-Danke: Frank "The Tank" & Bunter Salon

 

 

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