Kirchglocken läuten, aus einem Stall muht es (479)

 

Wieder werden die heimischen Gestade verlassen, lockt die Bühne für eine neuerliche Privatparty. Solche Events sind spannend wie das Aufknabbern eines Ü-Eis. Nie weiß man, was drin ist. Besonders dann nicht, wenn es in den nordwestlichsten Bezirk der Universitätsstadt Göttingen geht, genauer in den Ortsteil Esebeck. Fahrwart Pichelstein stellt sich eine Kiez-Lokalität mit lauter Kaffeeschaum löffelnden, alleinerziehenden Vegan-Akademikern vor, Sozius Makarios zuckt vollends mit den Schultern.

 

Aus Leipzig heraus darf die A38 Richtung Südharz - nach einem explosiven Unfallgeschehen ist die verkohle Fahrbahn stark sanierungspflichtig - erst hinter Merseburg angesteuert werden. Entsprechend staut sich der Verkehr. Im Radio wechseln sich schlimme Stakkato-Bundesliga-Reporterinnen ab, zur Halbzeit gibt’s Kopfwacklerhymnen.  

 

Alles in allem herrscht sommerliche Leichtigkeit vor. Bei offenen Fenstern kühlt eine leichte Brise, bei geschlossenen röhrt die Klimaanlage. Würden alle aufgepumpten Überholspur-Maikäfer bereits unter den Organspendern weilen, wäre es noch gemütlicher. Ja, sie führen sich auf wie die Axt im Wald. In ihren Status-Karossen. Sie wissen nicht, was literarische Unken der Wahrheit einst über sie weissagten: Status ist das glatte Gegenteil von Hirnbesitz.

 

In Werther bei Nordhausen wird sich gestreckt, gereckt, all das vollzogen, was man auf Rastplätzen anstellt. Dann: A7, schließlich Bundes- und Landstraßen. Mit durchkomponiertem Vocal Yoga führt die Navidame den Tourgolf an. „Die hat doch Mundgeruch“, sagt ein Doctor zum anderen. Stimmt nicht ganz. Denn würzig ist allein die Luft in Niedersachsens Landen. Was am Gülleausfahren liegt. Ein Job, den Landwirte stets am Samstag erledigen. Wenn draußen frische Wäsche hängt und der wöchentliche Badetag ruft.

 

„Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Pichelsteins Kiez-Gedanken verfliegen rasch. Hier ist es bereits beim ersten Anblick großartig. Als (übrigens) landgeborener Niedersachse muss er’s wissen. Kurzes Hallo! Rasch noch ein paar Kilometer Richtung Stone-City zum Parkhotel Ropeter düsen, einchecken, Rückfahrt. Dabei wird auch noch mal klar: Niedersachsens Städte sind eigentlich aneinandergereihte Serpentinen-Dörfer mit einem überschaubaren Stadtkern. So dann endlich: Langes Hallo! Kalttränke! Die Gästeschar prostet, der Zapfhahn glüht, herrlich.

 

 

 

Wir befinden uns auf einem ca. 1850 errichteten, restauriertem Hofgebäudekomplex. Kirchglocken läuten, aus einem Stall muht es. Makarios tritt ein, stellt sich vor. Das Defilee schwarzweiß gefleckter Damen nickt freudig zurück. Bis gestern wurde im Innenhof noch gemalert und alles auf partytauglich gedreht. Alex hatte im Dezember Geburtstag, Stefan machte ihm ein Geschenk: Ein Doctors-Event mit Schleife drum. So muss das.

 

All das fußt auf ein lang vergangenes, sonntägliches Prenzlauer Berg-Konzert im Dunckerclub. Beide Gastgeber lebten damals in Berlin. Und nun eben samt Gattinnen hier. Darauf eine Grillwurst! Wie heißt es noch so richtig? Gute Grillmeister sind die Retter der Welt. Wenn sie darunter noch Erzeugnisse vom lokalen Landfleischer verwenden, ist ein Übermaß an Zurückhaltung schwerlich zu erkennen. Hier der Beweis:

 

 

 

Um nicht wie die Plastinate Gunther von Hagens zu enden, langen die Docs kräftig zu, wird der Gürtel vorsorglich weitergeschnallt. Nachschlag gibt’s später, erst die Arbeit, dann das nächste Wurstvergnügen.    

 

Schon manches Waterloo wurde in Sachen Technik auf Privatpartys erlebt, heute ist die Sache einfach wie nur was. Pichelstein fuhrwerkt an der Backline herum, Makarios soundcheckt nebenbei, schon steht die Bühnenwucht unter gut sortiertem Feuer. Noch ein Kaltgetränk. Eins in Reserve. Begrüßung durch die Gastgeber mit dem Hinweis, dass kaum einer im Rund jemals längerfristige Pratajev-Studien betrieb. Ergo: lauter Novizen, für die ein Doctors-best-of vom Feinsten. Los geht’s. „Da hält der Wind den Atem an!“

 

 

 

Ein von biblischer Wucht gezeichnetes Konzert bricht los. Auf geht’s, Tabula rasa in Göttingen-Esebeck. Makarios führt mit dunkler Stimme durchs Set, Pichelstein sekundiert auf stählernen Speed-Saiten. Wodka Bulbash wird Thema und genüsslich verzehrt. Becher schwenken durch die Luft, dem Erlenholzgitarristen wird ein Ständchen gesungen, denn heute ist sein Geburtstag. Pichelsteins allererster, der auf einem Doctors-Konzert begangen wird. Verbeugung, Danke, rührend, Träne im Knopfloch, weiter im Set, immer weiter. Bis unterm Zwielicht der Dämmerung, nach mehr als einer Stunde, die Pause mit der ersten Schnapsbar den Deckel drauf macht.

 

 

 

Der Himmel wird in Kürze dicht besternt sein; als „Fürchte dich nicht vor der Flasche“ Teil zwei der Pratajev-Revue eröffnet, sind erste Ausläufer sichtbar. Die Tanzfläche vor der Bühne ruft und wird erhört. Beim „Wanderer“ holt Pichelstein den Jazz, bei der allerletzten „Schnapsbar“ den Walzerkönig raus. Dazwischen liegt ein langer Ritt, eine trunkene Reise, liegt viel Beifall, Zugabe und Glück in der Luft. Noch ein Lied? Okay. „Geh heme, meine Kleene.“ Und dann: Grillwurst, Kaltgetränke, Bulbash, innige Gespräche, ein Riesendanke an alle.    

   

  

 

Später, viel später: Das Shuttle (Danke an den Grillmeister samt Gattin) parkt vorm Hotel; wie zwei im Wind wehende Nachtschattengewächse stromern die Docs zur Unterkunft. In einem Schießfilm mit Happy End würde der Epilog so enden: Wir sahen sie erst am späten Vormittag wieder.