tour_tagebuch
Ausflug in die stahlgehärtete Kulturhauptstadt (493)
Die Tage werden kürzer, die Natur lockt bunter. Am Himmel rackert die Sonne. Kaum musste Doctor Pichelstein seinen äußerst gelungenen Norderney-Urlaub beenden, ruft die Kulturhauptstadt Chemnitz. Lange ein Doctors-Hotspot, in den letzten Jahren nicht mehr, was dem Clubsterben der Post-Corona-Zeit geschuldet war. Umso schöner, dass sich zwei wahre Heroen der Pratajev Gesellschaft e.V., Paschka Parlierowna, MG Nr. 90, Funktionen: Kunstschweißerin (Trägerin des Rostigen Bleches in allen Rostgraden), Borschtsch-Köchin mit eigenem Friedhof, Semiprofessionelle Briefmarken- und Banknotenfälscherin (aus der Linie des Pseudodimitri II., Hochstaplerdynastie am Zarenhof) und der schlicht Veterinär geheißene Veterinär (EMG Nr. 46) in seiner Funktion als (Überraschung) Veterinär ins Bar:kombinat an der Theaterstraße einmieten konnten.
Nachmittags geht’s mit doppelter Ersatzwäsche durch den vollgestopften Leipziger Westen los; zwei Konzerte sind es an diesem Wochenende. Samstag wird ein Oberlausitz-Ausflug an den äußersten Zipfel des ehemaligen DDR-Staatsgebiets drangehangen. Dorthin führt die Reise, wo an Wochenenden reichskriegsbeflaggte Mehrgenerationen-B96-Wutbürger herumlungern. Was treibt sie nur an? Woran leiden sie inmitten einer grundguten, malerischen und preiswerten Umgebung (eingekauft, getankt werden kann gerne wenige Meter hinter der tschechischen oder polnischen Grenze)? Leiden sie an Persönlichkeitsstörungen? Nein, dafür fehlt ihnen schlichtweg die Basis.
Eines hat sich seit der Anreise zu den letzten Chemnitz-Konzerten, etwa ins Flowerpower oder ins Subway to Peter, nicht geändert. Die durch Planungsversagen, brüchigem Teer, Korruption, dem freiwilligen, wenn nicht gar unfreiwilligen Brückensprung eines geldflussleitenden Tiefbauamtlers belastete A72 ist immer noch nicht fertig. 2006 sollte sie ans Netz gehen. 2028 könnte mit viel Konjunktiv nach süditalienischer Art ein letzter Lückenschluss begossen werden. Es sei denn, es tauchen zu allem Überfluss noch umzusiedelnde Kammmolche, Gelbbauchunken, Wutbürger und Feldhamster auf.
Von keinem mobilen Verkehrsblitzer erleuchtet, biegen bockwurstgestählte Docs im zweiten Versuch in die richtige Ziel-erreicht-Straße ein. Der vorherige Fehlversuch darf dem Navi angekreidet werden. Augen auf, Navi aus ist manchmal die bessere Alternative. Sei’s drum, Auto am Bar-Würfel geparkt, viele Hände, schnelles Ende, die Backline ruht an der Bühnenecke, Kaltgetränke laufen, schäumen aus dem Zapfhahn, draußen sitzen, in die Sonne blinzeln, Wespen wegfuchteln, tolle Leute kennenlernen, wiedersehen, Geschenke in Empfang nehmen: Lutscher, KI-generierte Pratajev-Gedichte (die gibt es wirklich), russische Getränke, wissenswertes für Doc Pichelstein in Buchform (Nikolai Ostrowski: "Wie der Stahl gehärtet wurde"). Was will man mehr?
Das vorgefundene Interieur im Bar:kombinat greift modernsten DDR-Vibe auf, urige Kulturhausmomente, all das. Emsig wird am Bühnenaufbau gebastelt - bis der Master of Sound zur Mikrofonprobe ruft. Rasch muss es gehen, die Lokation füllt sich mit zuvor am Eintritt Schlagestehenden.
Wie eh und je vergolden die Docs auch den heutigen Soundcheck mit Anekdoten und angespielten Reserve-Liedern, Pichelstein trällert dazu aus dem Watzmann-Rustikal: „Wie schallt's von der Höh'? Hollaröhdulliöh!“ Mittenmang wird der Ton eingestellt, werden die Monitore gefüttert. Was übrigens ganz furchtbar für alle Beteiligten ist, sind Tonproben, in denen der eigentlich singende Frontmann dieses oder ähnliches Gewürge von sich gibt: „Check, Check, eins, zwei, Hallo, hört man mich? Huhu, Check, Check, eins, zwei … Monitor muss lauter, Gitarre muss leiser. Check, check, oh yeah, Baby, ööööööh, üüüüüü, Hallo, hört man mich?!“ Die Idee, das mal mitzuschneiden und auf einem Soundcheck-Kanal in den Sozialen Medien hochzuladen, hatte bisher noch keiner. Ist ja auch nur eine Idee.
Dann geht’s los, das Intro läuft, das Pratajev-Hochamt beginnt wie zuletzt immer mit dem Wind, der den Atem anhält. Makarios führt beschwingt durchs Set, Medikation: Tonic mit Spritz. Pichelstein zerschneidet die Luft mit messerscharfen Saitenklängen, Medikation: Gerstensaft. Nach beinahe jedem schnapslastigen Lied wird Feuerwasser aus der Truhe gereicht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Doctor. Und noch einer. Runter damit, Danke dafür. Erstaunlicher Rundblick im Kulinarik-Block: Heute gewinnt deutlich die Nudel- vor der Holzlöffler-Fraktion. Mindestens zehn Schwenkpackungen! Wenn nicht gar mehr.
Bis zur Halbzeitpause verrinnen insgesamt ca. 1,5 Stunden. Bevor es an die Schnapsbar geht, muss es die berauchbare Frischuftbar sein. Gebadet im Schweiße, kaum getrocknet lockt die Fortsetzung des Programms. Ausufernd nimmt Makarios eine ganze Horde Feldmänner, den Käferzähler, die Schwimmerin, einen Baffen, den Gärtner usw. mit auf Reisen. Nur einer bleibt zurück, es ist der Faule. Hinein geht’s ins Tierreich der Katzen, Ratten, Biber, die Menschen tragen vom Opa bis zum kleinsten Baby einen Schlips aus Lurch, die Bar kocht, jubiliert, den Kühen geht’s gut, die nächste Schnapsbar führt direkt in den Zugabeblock hinein. Auf Zuruf folgen Hymnen wie „Tasche“, „Gelber Fettfrosch“, „Löcher im Strumpf“. Dann muss es gut sein, so gut, dass der musikalische Abend für gelungen erklärt wird und walzertanzend an den DJ übergeben werden darf.
Noch eine Weile sitzen, schwatzen, letzte Vinylplatten (alle Auflagen sind seit heute vergriffen, Hallo, Major Label!) signieren, noch kleine Getränke genießen, ein paar große dazu. Dann nichts wie ins Congress Hotel, gleich um die Ecke verortet. Danke, liebe Kulturhauptstadtgemeinde, liebe Menschen des Bar:kombinat, liebe eingangs erwähnten Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft e.V., liebe Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft e.V., die eingangs nicht erwähnt wurden und: Liebe alle - es war uns ein Fest.
Fotodanke: Sven Eulitz, Paschka P.
Die russische Schattenflotte (492)
War es bei den hochsommerlichen Junikonzerten doch recht heiß in Sachsen, rührt sich gerade ein regenschauerprägendes Tiefdruckgebiet nicht von der Stelle. In Leipzig gibt’s dafür Wolkenlücken. Die Doctoren fahren drunter weg und gönnen sich kurz vor der Autobahn in Leipzig-West jeweils knapp vier Euro teure Zapfsäulen-Zipfel. Die Bockwurst selbst wird einen Euro wert sein, Senf plus Brötchen zwei, der letzte Krümeleuro ist der Pappe geschuldet. Oder dem gebotenen Showprogramm, in dem einer der bediensteten Philosophie-Werkstudenten die Bude lauter werdend industriestaubsaugt, während ein anderer brüllt, dass man nichts mehr verstehen kann. Schon gar nicht die Kundschaft. „Welche Säule? Die sieben?“ – „Nein, die …“ – „Wie bitte?“ Nichts wie raus aus der Tanke, Fuß im Blindflug aufs Gaspedal Richtung Pirna. Blindflug deshalb, weil das Navi anmerkt, kein GPS-Signal zu empfangen. Auch die Handys streiken, was da wohl wieder los ist. Vermutlich war’s wie eh und je die russische Schattenflotte.
Pi-rna zu finden, das ist nicht schwer, wusste schon Pratajev. Doch sollte man die A14 dorthin schon bei Nossen verlassen, um nicht im A4-Stausumpf zu versanden. Nach einer malerischen Tempo 30-Landpartie (mit bahnüberquerender Buckelpiste, über manches Haushaltsloch hinweg) landet man glücklich auf der A17 mit ihren Bergtunneln. Dann ist es nicht mehr weit; das Zwischenziel der Docs liegt vor Augen: Pirna-Copitz, Oberposta, wo nach dem Einchecken im Hotel Elbparadies ein herrlicher, kippengeschwängerter Blick vom Zimmerbalkon zwei Stunden Autofahrt vergessen lassen. Ein Rest Regen zieht vorbei, Wolken werden gen Tschechien geschoben, die Sonne kommt raus. Herrlich. Jetzt noch Uniwerk-Haudegen Mario zur Abhole anklingeln, der sich als Shuttle- und Technikspezialist zur großen Verfügung stellt. Dafür viel Dank an dieser Stelle.
Noch geringfügig, langmütig im Teppichzimmer ruhen, ferner darf es losgehen, zum Uniwerk, zur Open Air-Hofnacht, wo bereits 2024 ein eigentlich nicht mehr zu toppendes Pratajev-Feuerwerk abgebrannt wurde. Eigentlich.
Angekommen in der Oberen Burgstraße grüßen viele Hände zum raschen Bühnenaufbau-Ende, darauf ein Bio-Probierchen für Pichelstein, Tonic für Makarios. Ronny und Kerstin landen zur formidablen Brot-Wurstplatte. Eine wohltuende, edle Sache. Ein weiteres Bio-Probierchen, im Tonic landet der erste Scharfschuss, drum klappt der Soundcheck gleich viel besser.
Gesagt, getan, voll wird’s im Oval vor der Bühne. Durstige Biber, Ratten stehen Holzlöffel bei Fuß. Die Lichtenstein-Chemnitz-Fraktion wird gesichtet, geherzt, Mario2, Abordnungen aus Dresden garantieren ein herrliches Wiedersehen. Sogar Ulf hat das gelobte Land gegen die Hofnacht eingetauscht. Bestes Timing. Ronny sorgt für nasses Gold im Mund, Reste aus Bulbash-Vorräten finden reichlich Abnehmerschaft.
Gegen 20 Uhr stehen sich die Menschen in den Füßen, sogar Schwangere im Zustand weit fortgeschrittener Sexualität sind auszumachen. Die Docs zucken mit den Achseln. „Dann mal los,“ sagt ein Doctor mit kühlem Kopf dem anderen. Ohne Intro, darauf muss technischerseits verzichtet werden. Liegt woran? An der Russische Schattenflotte. „Da hält der Wind den Atem an!“
Pichelstein legt los wie ein Schwimmflügelbeißer im Planschbecken, aus Makarios sprudeln die Anekdoten wie aus zig Brausetabletten. Die frenetisch gefeierten Doktorspiele führen zu leicht beduselten Zwischenrufen. Gleich zu Anfang kreischt es weiblich und vehement von weit hinten: „Männer die am Feldrand stehen!“ – ein ehernes Pratajev-Gesetz gelangt zur Anwendung: Bei so viel Liebesbekundung muss jedes Wunschlied stante pede aufgeführt werden. Zur Belohnung gibt’s Bulbash, „Jeder Schluck ist ein guter Schluck“ hinterher, wieder einen Bulbash, so geht die Pratajev-Reise unermüdlich weiter. Bis die knapp ersten beiden Konzertstunden unter höchstem Durchdrehpotential gespielt sind.
Nach dem Fetisch-Block, der Pichelstein-Kür zum schnellsten Gitarristen, folgt eine erste Schnapsbar. Kein Grund nach Hause zu gehen. Erdhockend, auf Stühlen, lassen sich jene Menschen nieder, die von ihren Getränkeversorgern bestimmt nicht im Stich gelassen werden.
Weiter geht das Spektakulum mit dem „Baffen“, mit Pratajevs Gefolge. Einer will sich partout nicht anschließen. Es ist „Der Faule“. Dafür kommt „Der Imker“ mit, „Der Käferzähler“, „Die Schwimmerin“, „Der Gärtner“, viele mehr. Wild ist die Lage vor und auf der Bühne, kein Gang wird zurückgeschaltet, sodass balladeske Gefolge-Titel wie „Die Zarte“ oder „Der Arme“ außen vor bleiben müssen.
Noch wilder wird es bei den „Toten Katzen“, bei der „Ratte“, dem „Biber“ – denn was kann schöner sein auf Erden, als Veterinär zu werden? Das Uniwerk-Publikum singt mit und qualifiziert sich damit für die Teilnahme an den World Choir Games, dem Olympia der Chöre. Die nächsten Spiele werden 2026 in Helsingborg, Schweden, stattfinden. Sofern die russische Schattenflotte nichts dagegen hat.
„Der Kuh geht’s gut“, die nächste Schnapsbar könnte direkt ins Ermüdungsbecken führen. Pichelstein reckt die Gitarre in die Luft, als hätte er soeben den Stanley Cup gewonnen. Makarios pustet durch, die Docs liegen sich in den Armen, die Menschen feiern, klatschen. Also gut, Zugabewünsche werden eingesammelt, laute, schnelle. Von der „Tasche“ bis zu den „Löchern im Strumpf“, letzte Kräfte werden ganz im Sinne Katherina Reiches mobilisiert. Das ist die aktuelle Ministerin für Wirtschaft und Energie, Motto: „Rente mit 70“.
Schlussendlich darf mit „Geh heme meine Kleene“ samt angehängter, allerletzter Schnapsbar die Zielgerade erreicht sein. Verbeugung, Frotteehandtuch, es spritzt der Schweiß, rinnen die Perlen. Schnaufend schmiegt sich Pichelstein an den Bühnenrand, signiert dies und das. Keine Saite riss in den letzten drei Stunden, die russische Schattenflotte hatte Erbarmen - und das sollte sie auch.

Auf zum Bühnenrückbau, das Oval leert sich, zum Abschied wird später viel geherzt. Die Bio-Probierchen fließen, der Sehnsuchtsort aber bleibt.
Fotodanke: SEB, Uniwerk Pirna