tour_tagebuch
300 Meter durch Sibirien (462)
Morgens, 10 Uhr in Leipzig. Zur besten Knopperszeit probt Doc Pichelstein kühne Gitarren-Variationen. Draußen scheint die Sonne, 15 Grad zeigt das Balkonthermometer an. Eine Momentaufnahme. Tiefdruckgebiete stehen bereits Schlange, polare Kaltluft wird angesogen. Zu merken ist davon erst später. Nachdem Doc Makarios aus der Häuslichkeit gelockt, der Merch aus dem Büro geholt, Soulfood-Currywürste verdrückt wurden, der Fläming erreicht und auf der A9 schließlich einer Unwetterlage zu trotzen ist.
Regen prasselt so dicht auf die Windschutzscheibe, dass Pichelstein Mühe hat, den Tourgolf in der Spur zu halten. Makarios starrt derweil missmutig auf kraftvoll arbeitende Scheibenwischblätter. Da klappt kein meditatives Rauchen unter gesenkter Seitenscheibe. Würde man diese nur leicht nach unten kurbeln, hieße das: „Tauchvorgang einleiten!“ Im Fachjargon: „Anblasen“. Hat nichts mit dem Neujahrgetue einer durstigen Feuerwehrkapelle, und gar nichts mit dem zu tun, was einem darunter fürwahr bei Google ohne Erwachsenenfilter präsentiert wird.
Auf der schmalen A10 lässt der Regen nach. Und da es erstaunlicherweise nur einen einzigen Stau gibt, ist das heutige Ziel Oranienburg plötzlich zum Greifen nahe. Ein Schild. Die B96 lockt. Pichelstein fährt vorbei. Makarios schaut fragend. Pichelstein zuckt mit den Schultern, denn das Navi hatte andere Pläne und nimmt erst die nächste Ausfahrt ins Visier. Merke: Einem Navi muss man gehorchen, sonst wird es zum Klaus Kinski und beginnt zu verrohen. In etwa so: „Du dumme Sau, nicht hier von der Autobahn runter, sonst schlag ich Dir in die Fresse, Du Kretin …“
Ankunft im Stadthotel Oranienburg an der André-Pican-Straße. Schwarz gewandet, wie die Security-Chefs von Nana Mouskouri, wird eingecheckt. Eine sehr zufriedenstellende Zimmersichtung beflügelt zur Weiterfahrt.
300 Meter Regenlinie von hier entfernt befindet sich der Kulturkonsum, den man ohne Umschweife als urbanen Leuchtturm kultureller Darbietungen beschreiben darf. Dahin steckt ein bestens organisiertes Kollektiv, von dem Gäste und Künstler wunderbar profitieren. So auch heute.
Kaum nachdem das ganze Backline-Gedöns zur Bühne geschleppt ist, gibt’s Heiß- und Kaltgetränke, läuft der Soundcheck, sitzen sich die Docs vor einem leckeren, punktgewürzten Lammeintopf im Küchenbackstage gegenüber. Stefan & Crew, zu der auch ein pensionierter Gefängnispfarrer gehört, wissen, was gut ist.
Satt und überraucht geht’s zurück in den Kulturkonsum, wo bereits jeder der 60 Stühle voll besetzt ist. „Wir sind ausverkauft!“ ruft ein Doc dem anderen zu; das Publikum steckt die Köpfe zusammen und schlürft bisweilen sogar Wodka. Baumfreund Ekmel und Gefolge winken aus fernen Ecken, da kann gar nichts mehr schiefgehen.
Einmal im Monat fährt der Kulturkonsum eine Veranstaltung hoch; die heutige wird vom pensionierten Gefängnispfarrer eloquent eröffnet. Anschließend legen die Docs los. Makarios mit sattsam bekannter Stimme, rau wie in Whiskey-Cola getränktes Pergament, Pichelstein mit einem agogischen Feuerwerk livegitarrenhaftiger Schnelltonkunst.
Aufgrund der Bestuhlungssituation hätte man erwartet, dass der Abend erst langsam Fahrt aufnimmt, doch es kommt erfreulicherweise ganz anders. Das Publikum zündet den Turbo und hängt der Pratajev-Geschichte an den Lippen. Quietschend vor Lachen werden die Schenkel versohlt, auch der im Land Brandenburg sehr verbreitete Herrenknuff kommt zum Einsatz. Bei „Wodka Wodka“ preist Zeremonienmeister Makarios die Doctors-Hausmarke Bulbash mit drohender Verknappung an. Schon sind alle mitgebrachten Flaschen, vier an der Zahl, vorbestellt und am Ende auch ohne Billet wegverkauft.
Die Konzertreise führt durchs wilde Absurdistan und ob es Pratajev denn nun tatsächlich gegeben hat, wird Novizen-Gesprächsthema in der Schnapsbar-Pause sein. Zuvor besiegt sich Pichelstein mit mentaler Riesenmanier wieder mal selbst auf der Tour de France-Gitarre zur „Harten Wirtin“.
Der zweite Block setzt dem Fetisch-Reigen mit dem „Baffen“ ein Krönchen auf, bevor sich das Publikum einer Reisegruppe Pratajevs anschließt. Vom „Käferzähler“ über den „Satten“ bis zum „Wanderer,“ der am Wegesende einen Baum mit toten Katzen dran vorfindet. Klar, da muss jetzt mitgesungen werden. Makarios stimmt sich den Einlass-Chor für den Tierliederblock zurecht und so wird es bis zum Schlusspfiff wild, was auch daran liegen könnte, dass unterdessen Wildkräuterfläschchen zur Bühne gereicht und stante pede verzehrt wurden.
Der Applaus ist groß und gerecht. Es folgt die Nachspielzeit mit einem Wunschkonzert. Fast alles, was gerufen wird, muss gespielt werden. „Alte Henne“, „Der Raucher von Bolwerkow“, „Jägerlatein, „Schnaps und Weiber“ und vieles mehr. Deutlich angezählt erreichen die Docs die nahende Walzer-Schnapsbar und befinden schlussendlich laut wie schnell: „Der Abend ist gelungen.“
Rasch sind sie wieder auf dem Damm. Mittlerweile hat sich die Gegend draußen verändert. Rauchende kuscheln sich vorm Kulturkonsum eng aneinander. Der Winter macht ordentlich Werbung für sich, es stürmt und schneit. Ein großer, gehaltvoller Grappa wartet wärmend an der Bar. Sonst ist alles alle. Was es hier noch nie gab, wie in leicht bis mittelschwer angeschickerten Zuständen berichtet wird. Noch ein letztes Glas, dann soll es 300 Meter durch Sibirien Richtung Hotel gehen. Vielen lieben Dank für diesen Abend!
Ein Kommen und Gehen, ein Bleiben, ein Sitzen, ein Stehen (461)
Alles vorm fünften Kaffee ist schlafwandeln, alles vor der ersten Tankstellen-Bockwurst keine echte Tour. Auf dem Weg nach Wittenberg lenkt Pichelstein den Sportgolf hernach durch den harschen Winterschneefall. Glücklicherweise ist Fürst Fedja heute mit an Bord, das sichert die Rückreise und verhindert ein sonntägliches Aufwachen im gebetsamen Erlebnispark der Lutherstadt.
Irrlichternd vorbei an zum Schluss Photovoltaik-gestählten Straßenzügen wird der Irish Harp Pub erreicht. Im Februar 2019 gastierten die Docs zuletzt hier, alle darüber hinaus angesetzten Konzerte fielen dem bösen C zum Opfer. Unfassbar.
Das harte Los der Verehrung gilt Chefwirt Jens. So viele Bars und Kneipen schlossen unter „Corona“ für immer (im Gegensatz zu sinnfreien Fitness-Studios). Die Zeit heilt manchmal eben gar nichts. Das Irish Harp in der Wittenberger Collegienstraße hat glücklicherweise weiterhin Bestand und ist nach wie vor eine der klügsten Anlaufstellen für Bier- und Whiskeyathleten der unmittelbaren Welt. Danke!
Die Aufgaben sind klar verteilt: Pichelstein baut die Bühne, Makarios den Merch, Impressario Fürst Fedja eine kleine Schnapsverkostungsanlage auf. Soll doch Jens überzeugt werden, das ein oder andere belebende Getränk ins Kneipensortiment zu nehmen. Ob das am Ende gelingt, wissen nur jene, die im Konzert-Bermuda späterhin als nicht vermisst gemeldet werden.
Freddy Fresh-Pizzen werden bestellt und erst kurz vor Entdeckung ferner Sonnensysteme von einer Figur aus Pinky und der Brain geliefert. Also: knapp bevor die APP mitteilt: „Ihre Bestellung befindet sich nicht mehr auf dem Lieferweg. Sie wurde vom Zusteller aufgegessen. Bitte hinterlassen Sie eine Bewertung.“
Am Ende der lecker abgespeisten Nahrungskette ist alles fein; betrauert wird nur, dass Pia und die Willy-Bande erstmals unpässlich sind. Schade! Wird es deshalb ein finsterer Abend werden? Nein!
Das Irish Harp platzt aus allen Nähten. Ein Kommen und Gehen, ein Bleiben, ein Sitzen, ein Stehen. Das Publikum steckt die Köpfe zusammen und schlürft eifrig Getränkekarten rauf und runter. Noch rasch zwei letzte Draußen-Kippchen mit Grüßen vom Schüttelfrost rauchen, dann ist Showtime. Der Pichelinator stöpselt die Drahtharfe ein, Doc Makarios ringt sich ein letztes Räuspern ab, los geht’s: „Da hält der Wind den Atem an.“
Gepflegtes Ausrasten ist die Folge. Mit Beinen, Füßen, Händen wird - wie in einem trampolinierten Vorgarten - gewippt bis leicht gehüpft. Tja, vor allem erstmals Lieder und Texte Pratajevs zu hören, ist schon eine gewisse Sternstunde des Irrsinns. Da bleibt kein Auge, kein Glasboden lange trocken. Vor allem im Fetisch-Block, der besonders in Wittenberg wie immer frenetisch gefeiert wird.
Pause, hin zur Schnapsbar. Fühlt sich an wie ein Chat mit 1.000 tollen Emojis in einer Zeit voller Dunkelziffertage.
In Boosterlaune geht’s nach 17,5 brandenburgischen Minuten weiter. „Der Rotarmist“ wird aus dem Keller gelockt, Fürst Fedja versorgt die Docs mit leckerem Gesöff. Die Erlebniszellen sind aktiviert, Makarios nimmt das Pub mit auf Pratajevs wilde Gefolge-Reise (von der „Zarten“ über den „Gärtner“ bis zum „Wanderer“) und landet nach brillierenden Tierliedern schließlich erneut im Hafen der nächsten Schnapsbar.
Eigentlich will man von der Bühne sinken, denn gehen geht nicht mehr so gut. Doch die imaginäre Tanzfläche ruft nach Zugaben und wird erhört. Einer „Tasche“ folgen „Löcher im Strumpf“, folgt „Der Raucher von Bolwerkow“ und vieles mehr. Es ist zum Niederknien! Doch dann muss Schluss sein. Der Schnapsbar-Walzer setzt dem Treiben gerne rotzefoll ein Ende. Ein Run an die frische Luft setzt ein. Draußen ist gut rauchen. Und damit sich Balken nicht biegen, ist der Großteil der westlichen Welt eben auf Steinen gebaut.