Naturtondoctors (314)


Der offizielle Start ins Tourjahr 2015 geht im Café Westen über die Bühne. Aufgeregt ist man darüber bereits am frühen Mittag und so wird noch rasch in alle Richtungen konferiert. Soll ja schließlich alles klappen. Großes haben die Doctors vor; nachdem in den letzten Jahren vornehmlich die Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft in den Genuss ausgewählter Livedarbietungen kamen – allerdings mit einer Tonqualität versehen, die eher ins Russische spielte – wird nun größer gedacht. Engagiert für die technische Konservierung dieses Abends im früh eingemeindeten Leipziger Stadtteil Lindenau wurde Doctor Naturton Adrian. Und während Doctor Pichelstein noch das Auto entlädt, Fürst Fedja mit Wirt Carsten kulinarisches bespricht, werkelt der Naturtonmann bereits emsig an der Fernsteuerung des Mischpults. Als der von einer Flachetappe einfliegende Stehrenner Doctor Makarios das Rund betritt, geht es nur noch darum, Stimmen- wie Gitarrenklänge optimal zu gewichten und ein wenig buntes Licht herbeizuzaubern.

 

 

Und so brechen sie an, die Stunden, Minuten der Ruhe vor dem Sturm. Da die Doctoren ungern Lebenszeit in separierten Backstage-Räumen verbringen, lieber dort sind, wo es lustig, frivol und laut zugeht, sind sie stets am Puls der Zeit mit Blick zur Schnapsbar und bekommen alles mit. Eine Kleinbusladung Norddeutscher aus Oldenburg strebt herbei und verkündet, man habe eben auf Youtube die Russian Doctors kennen und lieben gelernt. Flugs geht es zu wie einst in Pratajevs Busschaffner-Anekdote: „Unterschreiben!“ Zettel werden gereicht, Bierdeckel. Leidgeprüft fallen die vollen Teller mit den Burgern drauf kurzerhand der Vernachlässigungsschleife anheim, dann läuft die Sauce wieder voll ins polierte Rasiererland.

 

Die Feierlichkeiten des Tages veranlassten bei allen Beteiligten nämlich eine sogenannte „Entrumänisierung“. Ein wikipediafreier Terminus, der nicht weiter erklärt wird. Fragen Sie die Doctors beim nächsten Konzert, was damit gemeint ist. Wo es doch auch eine Entromantisierung gibt, warum nicht die Entrumänisierung ins weite Feld der Neologismen werfen?

 

Das Wirte-Personal muss eine Schippe drauflegen, mehr und mehr hungrige, durstige Menschen strömen hinein. Wer einen Sitzplatz ergattern konnte, hält eisern daran fest. Wer steht, passt besser auf, dass ihn kein Rempler um die Befüllung seines Schnapsglases bringt. Tja und dann ist es auf einmal so voll, dass kaum einer mehr reinpasst ins Café Westen. Der Naturtonmann hebt den Daumen, das Mischpult wird bei einem gemütlichen Kaltgetränk bequem von der Schnapsbar aus aktiviert. Wunder der Technik, alles funktioniert. Das Intro läuft, die letzte Zigarette bis zur ersten Pause ist Geschichte und los geht’s.

 

 

Wenn man in wichtigen Momenten daran denkt, ups, da könnte ja jetzt was schief gehen, sollten wichtige Momente gar nicht in diesen Stand erhoben werden. Dagegen sind Kräuter gewachsen und wir reden hier weder von Hanfblättern noch von Baldrianextrakten. Fürst Fedjas erster zur Bühne gereichter Gelbschnaps wird, so viel Lösung muss sein, deshalb gerne genommen. Auch der nächste und der übernächste und schon versagt der Abakus, fliegen die Doctors wie Posterboys auf einem Elfentrip durch den Abend und vergessen rasch die Live-Mikros. Pratajevs Weisen treiben bis in den hintersten Winkel hinein. Gute Vorbereitung ist alles. Wie im Eishockey, wo jeder Spieler auf ganz spezielle Pre-Game-Rituale schwört, so gibt es die natürlich auch in Doctors-Landen. Wir wollen an dieser Stelle allerdings nichts über derlei Sujets preisgeben, denn das bringt bloß Unglück. Die bereits erwähnte Entrumänisierung spielt, nur so am Rande, übrigens nicht in dieser Liga.

 

Berichten wir in diesem Tourtagebuch ausnahmsweise mal nicht über die Reihenfolge der dargebotenen Lieder. Sofern es denn tatsächlich für eine Doppel-Live-CD reicht, sei nur so viel verraten: Die Zustimmung, der Applaus, die Präsentation einer Blinklichtratte mit Herz sind ganz großes Kino. Doctor Pichelsteins Fado-Schnapsbar-Version hätte nicht nur die deutsche Vorauswahl zum Europäischen Songcontest gewonnen, nein, wenn Portugal davon erfährt, dürften ihm dafür beim nächsten Urlaub leckere Würzfische auf den Grill gelegt werden. Das Gitarrenerlenholz mutiert zwischenzeitlich zum Formel-1-Wagen, „Harte Wirtin“ und „Biber“ erreichen Überschallgeschwindigkeiten. Der zweitweiteste Anreiseschnaps geht an die Sektion Wismar, Oldenburg gewinnt und Herr B. aus C. hätte gerne noch tiefer ins Glas geschaut. Die Rückfahrpflicht gen KMS verhindert Ausuferung und so begeistert sich der Abend bis über die reichlichen Zugaben hinaus ungehemmt dahin. Triumph! Café Westen! Leipzig-Lindenau! Naturtonmann! Euphemismen braucht es dafür nicht. Ein wunderlicher Tag endet in völliger Zufriedenheit. Im Reinen mit der Welt fallen Doctor Pichelstein viel später im Taxi glatt die Augen zu.