Fett, einäugig, revolutionär (318)


Streng blickt der steinerne Nischel, als der Pratajev-Tross Chemnitz verlässt. Die Nacht war kurz im Hotel Mercure; den Äußerungen des Fürsten Fedja ist zu entnehmen, dass Doctor Pichelstein zu früher Lerchenstund‘ ein Liedchen summte oder sang. Jedenfalls so erhaben und ausdauernd, dass die Fürst Fedja-Nacht in Zimmer 2001 noch knapper verlief. Und im Fernsehen gab es nicht mal Schieß-Filme. Ausgiebig gefrühstückt wurde dann bei Danny samt Hund im Flowerpower, darunter: die feierliche Übergabezeremonie eines Siebdruckbildnisses der „Trinkerin“ aus Pratajevs Malerphase.

 

Fast ist es April und genauso benimmt sich das Wetter. Von Sonne bis Hagel ist dabei. Ein Ausflug ins tiefe Mittelsachsen steht an. Ziel ist des Doctor Makarios‘ Kinderstubenheimstatt Grimma. Es geht dorthin, wo die Flut öfter mal böse zu den Menschen ist, wo Mühlsteine und Wasserräder einst die Vorratskammern mit Sonne und Brot befüllten, an Rochlitz vorbei. Dorthin also, wo einst die heute völlig zu Unrecht vergessenen Wettiner herrschten, wo Markgraf Dedos Schlankheitskuren gründlich misslangen. „Fett, einäugig, revolutionär!“ rufen sich die Doctors im Auto, bei jeder Raucherpause, zu und der nach wie vor dem Spirit(us) entsagende Fürst Fedja nickt mit ruhmreicher Gestalt. Es geht ihm also wieder besser, doch nach wie vor gilt die Dreiviertel-Askese. Das fehlende Viertel beklagt: Hunger. Also wird eingekehrt. Ins „Gasthaus zur Wassermühle“ auf Bärlauchsuppen, Roulade, auf Knoblauchsteak, Tafelspitz und so weiter. Frau Spick-Schneider bedient zuvorkommend - wie einst die Mägde Dedos. Man möchte ihr vor Wonne… nein, möchte man nicht. Denn das gehört sich nicht. Spannend ist, wie eine hochbetagte Seniorin am Nebentisch mit nur drei sichtbaren Schneidezähnen in Windeseile ein Rumpsteak zerkaut und verdrückt. Große Kunst, großes Mittelsachsen.

 

Dann geht’s weiter über Stock, Stein und vor allem durch gewagt konzipierte Kurven. Hier, im Muldental, wird die Lebenserwartung noch in Fahrstunden gemessen. Vorbei rasen gedankenlose Freizeitraudis mit schadhaften Köpfen ohne Haare. Wer hat bloß diesen Trend gesetzt? Viele junge Männer, denen bereits in der sogenannten „Saftphase“ eines Lebens kreisrund die Haare ausfallen, entscheiden sich eines frühen Vormittages für eine Komplettrasur. Man sieht dann immer so schadhafte Stellen auf dem Kopf, möglicherweise vernarbte Areale, die so aussehen, als hätte eine Ex-Freundin mal mit dem nach oben offenen Sektglas darauf herum gedrückt. Oder zugeschlagen. Aber das wollen wir Ex-Freundinnen gar nicht zutrauen. Obwohl denen einiges zuzutrauen ist! Auch in Gegenden der 1. Vorstufe des Erzgebirges, wie Doctor Makarios quizrichtig bemerkt. Wahrlich, die Umgebung Torgaus gehört bereits zum Erzgebirge. Da gibt es nichts zu leugnen.

 

 

Nach Mahlzeiten soll man ruhen. Auf ins Torgauer Hotel Central. Noch zwei Stunden, bis der Tross an der Kulturbastion erwartet wird. Einer arbeitet (Doctor Pichelstein - muss ja nach jedem Konzert neue Gitarrensaiten aufziehen), einer schläft (Doctor Makarios), einer guckt endlich (!) Schieß-Filme (Doctor Förster). Dann nichts wie los, denn in der Bastion warten bereits die Brötchenteller, wartet ein nagelneuer Kühlschrank auf Entleerung. Es ist immer wieder unglaublich, wie gastfreundlich das KAP-Team ist, wie es jedem noch so anstrengendem Musikertag (schlafen, fahren, essen, schlafen) ein Schleifchen zu binden in der Lage ist. Selbst der Soundcheck fühlt sich so unbeschwert gemütlich an, als säße man in Pantoffeln vor einem Liebesfilm, in dem ein strammer Wettiner, dem noch keine Haare ausgefallen sind, raue Brautwerbung betreibt.

 

Dann erscheint Schnapsbrenner Gurt Kaktus im Backstage; es hagelt Geschenke. Zwei Flaschen Campa Orange für die namhaften Dedos, nein, Doctors dieser Welt (bzw. dieses Abends) stehen neben Pratajev-Zigarren, einem sicherlich mundgeblasenem TRD-Aschenbecher usw. im Mittelpunkt des erlauchten Geschehens. Rührender Dank folgt auf dem Fuße und dann schaut schon der Blumenkohl aus der Schnitzelbeilage paniert hervor. Danach einen Campa Orange, einen Brand aus Obst. Und danach und danach und danach geht das Konzert auch los.

 

 

Obschon der Bar-Bereich gewiss vollere Zeiten erlebte – in der 1. Vorstufenregion des Erzgebirges gibt es immer mal Ausfälle durch unaufschiebbare Familienangelegenheiten, durch drei Tropfen Regen zu viel und auch drei Tropfen Regen zu wenig - treiben die Angekommenen beide Doctors zu Höchstleistungen. Besessen von unwiderstehlicher Vergnügungssucht wird umso lauter applaudiert, setzt sich pratajevsches Brauchtum in Stimmen und Gitarrengewittern durch. Kurz wird nach einer Stunde diskutiert, ob eine Pause dem Russissmus-Reigen zuträglich wäre. Sie wird genehmigt. Und natürlich gibt es immer wieder Campa Orange, gelben Schnaps und auch weißen.

 

Mit lieblich verschatteten Blicken folgt drei Zigaretten später der nächste Konzertblock. Getrieben vom Dunkel, vom Hell Pratajevs schlottern sich alle in die Zugaben hinein und zum Schluss bleibt auf der Bühne nur noch Doctor Pichelstein übrig. Längst ist Doctor Makarios hastig über die Showtreppe entschwunden. Doch er kommt wieder, zu sanften Klängen aus dem Erlenholz. Er kriecht herein in die Hütte. Auf allen Vieren. Das hat es nicht mal in fast 30 Jahren Die Art gegeben. Dann wird final auf der Showtreppe gesessen. Für ein letztes Lied, so sanft, so zart, mit sicherem Blick aus klaren Augen. Willkommen zuhause, Pratajev.