333 Schnäpse (333)


Noch rasch den Matroschka-Maschinengewehr-Aufkleber an die Heckscheibe gepappt, schon geht’s auf ins Bockwurstparadies, zur Aral-Tankstelle, wo monumentale Brötchen nebst kleckrigem Senf die Kulinarik radikal verfeinern. Wie oft drohte eine Bockwurstbestellung hier, an der Leipziger Maximilianallee, schon zu scheitern? Fürst Fedja kennt all diese Geschichten noch nicht, also müssen sie erzählt werden.

 

Einmal bestellte Doctor Pichelstein mit frommstem Kirchengemurmel erst für sich ein kleines Wurstglück, dann für den Doctor Makarios noch eins hinterher. Die Verkäuferin sah Pichelstein völlig entgeistert an und rief: „Sie haben doch schon eine! Was wollen Sie denn mit zwei Würsten?“ Nun, Pichelstein steht im Bauch-Ranking der Doctors-Entourage weit abgeschlagen auf dem letzten Platz und wunderte sich schon ob der impertinenten Frage. Ein Tresen-Dialog entwickelte sich, um es vorweg zu nehmen, mit edelmütigem Ende für alle Beteiligten.

 

Pichelstein: „Ich hätte gerne zwei“.
Verkäuferin: „Na gut. Aber dann auf einem Teller“.
Pichelstein: „Bitte auf zwei verschiedene Pappen, nicht auf Teller.“
Verkäuferin: „Junger Mann, Sie haben ja Vorstellungen.“
Pichelstein: „Wir würden die Bockwürste gerne während der Fahrt essen“.
Verkäuferin: „Wieso wir?““
Pichelstein: „Die zweite Wurst ist für den Mitfahrer“.
Verkäuferin: „Warum sagen Sie das denn nicht gleich?“
Pichelstein: „Na weil ich nicht wusste, dass man das so genau angeben muss.“
Verkäuferin: „Hier. Gute Fahrt. Noch einen Kaffee? Haben Sie eine Payback-Karte?“ usw.

 

Es folgt auch heute das, was immer folgt, wenn man freitagnachmittags über die A9 Richtung Ring, Abfahrt Berlin-Hochzeit (also: Wedding, klar) möchte. Nämlich eine erschütternde, langatmige Odyssee von diesmal knapp drei Stunden. Unfälle, Staus, törichte Raserunvernunft, soweit das Auge reicht. Den meisten Verkehrsteilnehmern erscheint es sinnvoll, an einem Freitag sterben zu wollen. Da ist Feierabend, die Arbeit getan und zuhause herumsitzen muss keine glückliche Alternative sein. Beschwerlich hinzu kommt, dass Pichelstein und Fürst Fedja weiterhin vergrippt sind, Makarios sich dem Husten und Schnupfen nur durch zeitweise Vermummung entziehen kann. Und geraucht wird schon mal gar nicht. Die sonst so angenehmen Pausen, die manch einem Rastplatzbesucher Angst und Schrecken einjagen (schließlich starren drei schwarzgewandete, mit großkalibrigen Sonnenbrillen behaftete Männer in bester Russenmafia-Pose auf ankommendes Autobahnvolk), fallen aus. Der Plan Soundcheck 18 Uhr, Open Doors: 19 Uhr, gemütlich am Buffet lungern, dann ganz entspannt den Konzertstart hinlegen, verschiebt sich entsprechend.

 

 

Nach letzten Verkehrsrochaden auf der Zieletappe ist das Schokoladen in Mitte erreicht; nun muss alles humorlos schnell gehen und erstaunlicherweise klappt das auch. Aufbau und Check verschlingen keine zehn Minuten. Die feilgebotene Nahrung ist rasch verputzt, der erste Schnaps wird durch die Pratajev-Fraktion Birkholz gereicht. Dann wird’s voll im Club. Erneut ist die Freude über eine weitere Lieferung Teschendorfer Freiland-Tomaten riesengroß. Baumfreund Ekmel und Joachim brachten gar das Meetchen mit. Sensationell! Ausgeloste wie nicht ausgeloste Teilnehmer des übermorgen stattfindenden 42. Berlin-Marathons sind vor allem aus Wittenberg anzutreffen. Eine sportliche Stadt. Die Liste wird länger und länger. Ein Dank sei an dieser Stelle der Lilly aus dem Nachwuchs des Herrn Eademakow gewidmet. Überreicht wird vom stolzen Vater eine Buntstiftzeichnung, die das Wirken der Russian Doctors trefflich beschreibt. Der Titel des Bildes könnte lauten: Erlenholzgitarre, Hey-Mikrofon und Feldrandtasche mit Schnaps gefüllt.

 

 

Dann ersetzt das Live-CD-Intro kurz vor acht die Konserve. Pichelstein kippt, bei angekratzter Hust-Stimme wegen vergrippt und so, eine nette Dosis Bromhexin 12-Tropfen in sich hinein und gleitet beschwingt übers Bühnenparkett. Makarios kocht die Feldmänner hoch, zack: schon beginnt die nächste, intensiv bejubelte und bis zum Diskant erschöpfende Reise in Pratajevs wilder Zeitmaschine. Sechs Deckenscheinwerfer rücken die Handelnden in grelles, buntes Licht. Bereits nach den ersten Titeln möchte Pichelstein das Schweiß-Shirt wechseln. 333 Schnäpse könnte es heute regnen, denn genau so viele Konzerte haben die Erben Pratajev seit heute auf dem berühmten Buckel. Doch keine Sorge, es werden ein paar weniger, denn 333 Schnäpse in knapp über zwei Stunden Konzertdauer ohne Pause zu verkosten, führt sicherlich zu keinem 334. Konzert. Sondern ohne Umwege in das steril gehaltene Kühlfach eines Krankenhauses. Das liegt man dann in direkter Nachbarschaft zu einem Raser von der A9 und das ist keineswegs erstrebenswert.

 

Makarios kniet vorm Publikum, die „Toten Katzen im Wind“ werden, Dank feierfreudigem, singendem Publikum, in eine noch nie dargebotene Länge gezogen. Bald geht es auf 22 Uhr zu, noch 15 Minuten, dann regelt sich das Mischpult automatisch (wegen der schwäbischen Nachbarn) auf wenige Dezibel runter. In diesen 15 Minuten hagelt es eine Zugabe nach der nächsten. Ohne große Ansage gibt’s in Maximalgeschwindigkeit auf die Ohren: Doom-Doom-Darkroom-Schlager nach Art Pratajevs bis „Als das Eis kam so plötzlich“ den Reigen abschließt. Makarios springt von der Bühne, Pichelstein greift zum Ersatz-Shirt, schnaubt, pustet, hat keine Stimme mehr, wird mit Kaltgetränken wieder aufgepäppelt. Obwohl sicherlich ein gut gezogener, heißer Bronchial-Tee mit Honig angemessener gewesen wäre. Aber den kann man ja immer noch verkonsumieren. Auf in die Nacht! Was für ein Abend, wow.