Wie drei faule Schiffe, die auf dunklem Wasser schlafen (356)
Einstieg in die Tourschmette. „Junge, Junge, der Himmel hängt nicht voller Geigen, sondern voller Gänse“, ruft Fürst Fedja direkt nach dem eben erst reichlich verkonsumierten Frühstück. Und richtig. Über dem Stadtteil Friedrichstadt fliegt eine Schar gefiederter Luftikusse in Formation den Dresdener Öfen davon. Für die Doctoren geht’s jetzt nach Karlsbad, den Egerländer Hof zum Mittagstisch fest im Visier. Nach dem Grenzübertritt: großes Hallo mit „The Cure-Fans on Tour“. Makarios erklärt den Robert Smith-Jüngern noch kurz, wie die Vignette an der Frontscheibe anzukleben ist, dann nichts wie weiter durchs Schmuddelwetter. In diesem Jahr mündete ein unerwarteter Indian Summer glatt in jene dunklen Tage, die sich bleiern aufs Gemüt legen wollen. Doch all das nicht mit den Doctors, in Karlsbad warten tschechische Spezialitäten in fester und flüssiger Natura. Da kann es noch so feste regnen und nebeln: gutes Essen macht glücklich und dauernd darüber nachdenken zu müssen, was man alles nicht essen will, macht was? Genau. Ist nicht näher zu erläutern, jedenfalls kriegt man davon blasse Gesichtsfarbe mit dunklen Pickeln auf der Nase und muss eines Tages sein Glück auf einer Ü40-Party im Alten Lederwerk suchen.

Im Egerländer Hof besteht die einzige Schwierigkeit darin, einer sehr korpulenten, nach einem gesundheitlichen Defekt sabbernden älteren Dame nicht beim Zerkauen der Nahrung zuzusehen. Leider ist man durch Facebook oder TV-Formate wie „Dschungelcamp“, „Deutschland sucht den Superstar“ etc. mittlerweile so auf den pawlowschen Hund gekommen, dass man das Elend unbedingt sehen muss. Ja, Elend ist seit Mitte 2000 ganz toll und jeder will dran teilhaben. Man denke nur einmal an Autofahrer, die mit Smartphones tote Leichen am Unfallort vorbeirollend filmen und diese doch sehr private Angelegenheit des Sterbens wenige Minuten später auf Youtube hochladen. Ist die Welt doch schlecht geworden, Junge, Junge. Schnell wegsehen von der sabbernden Dame, hoch die Schwarzbiergläser und Zähne reingeschlagen in Ente, Gulasch, Knödel und Braten.
Nach diesem schönen Ausflug, verbunden mit mageren Pilzfunden an Straßenrändern, wird Thüringen angesteuert. Es geht nach Pößneck, ins PAF, und bei Ankunft ohne große Umschweife direkt an den Grill. Auf Privatparties sollte man sich keinen Illusionen hingeben – meist zu unerwartet früher Abendstunde sind die Kohlen erloschen, der Grillmaster betrunken und es regnet heftig in den vergessenen Kartoffelsalat hinein. Ja, das Tourleben ist schon eine tolle Sache. Satt wird man immer und getreu Pratajevs Ode an den Wanderer ist dafür nie ein Salär zu entrichten. Sehr gut. Und sehr gut drauf ist heute auch der bitterbierige Thomas, Organisator des Events und vermutetes Geburtstagskind. Doch der Anlass ist eigentlich egal, wie immer kommt es auf die Feier an. Dass die laut und heftig gelingt, davon wird das gefühlte, tomatenförmige Großherzogtum Pößneck noch lange berichten, doch der Reihe nach.

Minuten nach dem Soundcheck, in dem jede Mühe mithin von kleinen Erfolgen gekrönt wurde, tritt eine jugendliche Sängerin vors Mikro, greift entschlossen zur Akustikgitarre, legt verspielt los und mäandert traumgleich von Lied zu Song dahin. Es koppelt ein wenig, weil die Gitarre an keinen Stromkreis angeschlossen werden kann, aber bald ist Weihnachten. Liebe Eltern, so eine akustische Erlenholz-Ovation mit Klinke-Tonabnehmer (wie sie Tsutomu Kobori gottergeben zupft) sollte in diesem Jahr unterm Baum liegen. Doctor Pichelstein berät gerne. Der Pratajev-Tross hockt derweil zu 2/3 rauchend in einer Ecke wie drei faule Schiffe, die auf dunklem Wasser schlafen. Dann klingelt der Wecker, fragt: „Wollt Ihr Schnaps? Geht los.“ Ah! Und das ist schön, das gefällt Doctor Pichelstein besonders. Der Tonmischer ist eindeutig auf seiner Seite, heißt: Heute wird nicht nur schnell, sondern vor allem mit reichlich Ohrenfutter gespielt. Makarios schaut dann und wann verzweifelt; aus den Monitoren, den Frontboxen: Nichts als dicke Gitarrenwände. Gepaart mit jeder Menge Flüssigdoping steigert sich der Speeddoc von Stück von Stück und mit ramponierten Fingern geht’s in die verdiente Schnapsbar-Pause des Volkes.

Majestätisch geht’s 18,5 Minuten später weiter. Das Publikum teilt sich in drei Zusammenhänge. Gruppe eins tanzt, feiert, singt. Gruppe zwei denkt darüber nach, zur ersten wechseln zu wollen, wippt darunter bereits heftig mit Hüften und Zehen. Gruppe drei plagt das schiere Entsetzen, dass zwei wohlstimmige Musiker sich diesem Pratajev verschreiben. Es wird sogar ein Brief verfasst, in dem das genauso steht. Aber Gruppe drei ist eindeutig in der Minderheit, eine Radikalisierung ist nicht zu befürchten und so werden schadlos die Zugabeblöcke erreicht. Höhepunkt darf hier die goldecksche „Samtmarie“ werden, die sich tief in die Herzen der männlichen Besucher frisst. So tief, dass mancher spät in der Nacht sein ganzes Leben in Frage stellt, kopfschüttelnd an der Schnapsbar sitzt und nach einem heilenden Bulbash verlangt.
Gute zwei Stunden später schleicht die Tourschmette hinter einem lichtlosen Rennrad durchs nächtliche Pößneck her bis die Unterkunft, der schmucke Franzenshof im eingemeindeten Jüdewein, erreicht ist. Herrlich ist doch die Geruhsamkeit. Und die Aussicht auf ein kräftiges Frühstück darf ruhig auch schon sein.
