Koala, Panda & Co (390)


Neuer Rekord! Satte dreikommafünf Stunden dauert die Fahrt von Leipzig nach Pirna, was nicht daran liegt, dass ganz Sachsen auf dem Weg zum hiesigen Stadtfest ist. Nein, die Schuld daran tragen Baustellen, allesamt ohne einen einzigen Bauarbeiter mit Helm, Kippe und Teerfass in Sicht. Freitag ab eins macht jeder seins. In diesem Punkt, aber nur an diesem Tag, ist der Deutsche mit dem europäischen Südländer gleichzusetzen. Die Sonne brennt auf die Erben Pratajevs herab, als die sich an einer Umfahrung aus dem Auto schälen und rauchend am Straßenrand lustwandeln. 12 Dorf-Ampelphasen später sammelt Fürst Fedja den Maka und den Pichel wieder ein. Weiter geht’s, auf zur Hutbühne Pirna, dem inoffiziellen Stadtfestmotor an der Langen Straße 15.



Inoffiziell deshalb, weil Pirnas Stadtväter und Mütter die Bühne samt Feierpark in diesem Jahr nur dulden. Vorab fanden zähe Treffen samt eines langen Email-Verkehrs zwischen Veranstalter-Messias Ulf und den Großkopferten statt. Nachdem sich ein „Okay“ für die Hutbühne erstreiten ließ, folgten kasernierende Auflagen wie diese hier: Lautstärkepegel? Nicht mehr als 55dB. Aha. Dazu sollte man wissen: Ein durchschnittlicher Rasenmäher schafft locker 70, ein Güterzug, der hinter der Bühne frisch gezapfte Autos aus Tschechien transportiert: 110dB. Ungefähr so laut ist die Ballermann-Bühne in Pirnas Fußgängerzone. Mit einem 55er-Wert ließe sich ergo kein Punkrock produzieren. Da müsste man schon Psychonaut sein und sich ohrstöpseln lassen. Doch Ulf wäre nicht Ulf, wenn die Tastatur mit ihm nicht zum Äußersten gehen würde. Eine letzte Email, allen Unkenrufen zum Trotz und recht knapp vorm heutigen Tag aus dem Rathaus eingetrudelt, strich die 55er-Marke zumindest bis Mitternacht. Sehr freundlich, danke dafür.



Satte dreikommafünf Stunden dauert auch der Soundcheck aller musikalisch Sachverständigen. Die Technicusse Koala, Panda & Co müssen darin regelrecht angefeuert werden, damit DI-Boxen, Kabel, Mikrofone an eklatanten Stellen platziert werden. Auch scheint das allerwichtigste Krönungsmerkmal einer Soundeinstellung, beschriftetes Tape, nicht vorhanden, respektive unleserlich verfasst worden zu sein. Merke: Mit Edding gemalte Ziffern machen die Arbeit am Pult wertvoller als Blutdiamanten. Für Unbedarfte sieht das so aus: Kanal 1: E-Gitarre, Kanal 2: Geige, Kanal 3: DI-Box I (…) Nächste Spalte: Kanal 1: Monitor rechts, Kanal 2: Monitor links usw. usf. Liegt ein Fall für Schizophrenow vor, dem Arzt, dem Pratajev vertraute? Ist die Angst vor Zahlen ausgebrochen, im Fachjargon Arithmophobie geheißen? Ja, es gibt im Formelkreis spezifischer Phobien wenig, was es nicht gibt. Besonders schmerzhaft ist etwa das Letterbox Syndrome. Betroffene schaffen es darunter nicht mehr, den possierlichen Briefkastenschlüssel in die Hand zu nehmen und den Postkasten zu leeren. Ein Gang zum Schafott! Das Ding kostet mehr Nerven als jeder andere Mensch und Gegenstand. Hilflos trabt man drumherum, vernachlässigt sein Äußeres (Minus-Syndrom) und wird am Ende völlig entkräftet ins Meisenhaus geschickt.


Doch nun, zurück zu Koala, Panda & Co. Vorweggesagt sei dies: Kurz vor der Showtime waren die Soundchecks durch, Makarios sang probeweise für den abtrünnigen Grüßaugust-Robert (vom quirligen Strudel des Stadtfestes verschluckt). In die E-Geigensaiten griff ein älterer Herr, eine Zufallsbekanntschaft, eigentlich ein Cellist. „Hier, Dein 29 €-Ding,“ wortwechselte er mit dem wiederaufgetauchten Robert. „Hm“, dachte der sich und insistierte: „Das Ding hat vor Jahren geschenkte 5.000 Pfund gekostet.“



Um 20:30 starten die Doctoren. Nach dem „Rotarmisten“ schreckt Pichelstein Koala, Panda & Co kurzfristig auf: „Ihr müsst schon die Mikros aufdrehen, wenn Sänger dahinterstehen. Das reimt sich sogar.“ Gesagt, getan. Doch, was soll’s? Schließlich befinden wir uns nicht auf einer perfekt geschminkten, sehr hysterischen Helene-Fischer-Traumreise. Außerdem schmecken die Bulbash-Drinks während des Konzertes vorzüglich und die weiße Wurfratte vom gestrigen Konzert blinzelt in die Sonne. Nach 45 nassgeschwitzten Minuten unter tosenden Pratajev-Gewittern übergibt Makarios den Staffelstab an Conny Cocker und Ronald Goldgitarre. Somit an die Sehnsucht, die Wünsche und Träume, an die kleinen Lichtreisen zum inneren Selbst, denn es heißt: „Baby, bitte bleib“. Und Pirna ist bereit. Bereit für den Marathon der Liebe. Connys erster Auftritt auf echtem Elbsandstein mit Gras und Holz drauf. Neben einem satt tragenden Kirschbaum, der einst aus dem Garten der Lüste hierher verpflanzt wurde. Mit vollster Verneigung goutiert das umherstromernde Publikum die Show D'Amour.



Dann wird es hart. Doctor Jeans am Schlagzeug, Doctor Makarios mit elektrisierendem Blick am Head-Mikrofon, Doctor Pichelstein an der roten, dieselbetriebenen Gitarre: „Wiege Deinen Rumpf“. Der Opener zu einer weiteren The Russian Doctors-Oper, diesmal in Punk auf 120 dB. 10 dB lauter als die Güterzüge! Die Schnapsbarbühne wird zur Kampf-Destille; man erspäht von oben Fürst Fedja, der im Rund mit immer größeren Tabletts jongliert. Darauf glänzt Wodka Bulbash den samtenen Glanz des Gerechten. Ein großes Konzert wird‘s, hernach stapft man nass wie nach einem Dampfbadbesuch, matt und erschöpft von der Bühne. Und die gehört zur Blauen Stunde jetzt einzig und allein Grüßaugust aus Berlin-Rostock.


Der weitere Verlauf des Abends und der näher rückenden Nacht liegt im Nebel. Mal gibt’s Drinks in einer Katakombe, mal welche auf der Hofnacht-Terrasse. Wen es schlussendlich vor fünf in der Früh ins Bett zieht, wer nicht in Redseligkeit versinkt, der findet sogar noch eins.