Der Doctor vom KGB (396)

 

Warm klingt der Sommer aus, weshalb er „Indian Summer“ oder „Altweibersommer“ genannt wird. Abgeleitet von der „zweiten Jugend bei Frauen, die als unzeitig und nur kurze Zeit dauernd angesehen wird.“ Da haben die Frauen dann schon spinnennetzgraue Haare, beträufeln sich mit Parfumprodukten und greifen beim Nordic Walking zur Nuckelflasche. Aber das sieht man auch bei jungen, ereignisgierigen Menschen. Meist sind es verkleidete Sport-Städter, die mit Handy-Pipeline-Stöpseln in den Ohren und immensen Kiepen auf dem Rücken ein teures Fahrrad schieben, was nirgendwo anzuketten ist, denn nirgendwo ist es sicher. Empörung macht sich breit, denn Empörung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen unseres Jahrtausends. Schlussendlich schrauben sie das Ding vor jeder Eisdiele „in Stücke“, werfen den Sattel und was sonst noch in ihre Kiepen, bekommen davon nach dem Stehendverzehr der Eiskugeln „Rücken“, und gehen keineswegs zum Physiotherapeuten. Nein, sie buchen Fitness im Studio, und genau dort, im Paradies der Nuckelflaschen, werden sie süchtig gemacht. Fortan nuckeln sie an Plastikflaschen. Unentwegt! Bis tief in die Nacht. Was verleiben sie sich ein? Energie! Für eine ansteckende Lebensfreude. Immer. Auch nachts. Doch warum blicken sie immer so verkniffen drein? So verbiestert? Und starren auf die Pulsuhr? Das muss am Nuckelvirus liegen, der macht sie willenlos. Nähme man ihnen die Nuckelflaschen weg, kämen sie den „Greifern“ aus der Zombieserie „The Walking Dead“ sehr nahe.

 

Nun denn. Altweibersommer. Das Himmlische begrüßt den Doctorentross überschwänglich, unterm Sonnenlichtauge geht’s Richtung Ostsee und gleich mal rein in den ersten Stau. Eingelullt von der besonders in Berliner Rundfunkhäusern so beliebten „Lounge-Kacke“, die unaufhörlich rauf- und runtergenudelt wird. Was genau ist „Lounge-Kacke?“ Kurz und knapp: Eine Basslinie, eine drumherum wabernde Frauenstimme. Insgesamt langatmiges, unaufgeregtes Geschwurbel aus dem Setzkasten für Playmobil-Musikprogramme. Wer sich mit so was nebenbei beschäftigt, gerne auch im Halbschlaf, reiche den softproduzierten Kram bei einem Berliner Radiosender in größter Abspielgewissheit ein. Im Grunde klingt es genauso, als würde man unablässig einem „Info-Kanal“ lauschen, in dem immer nur gesprochen wird. Wie die Produzenten von „Lounge-Kacke“ aussehen, die uns „mit spöttischem Charme und witziger Präzision die Seele zu Füßen legen“ (würde ein Stadtmagazin-Redakteur schreiben … fehlt die Metapher von der „Musik, die unter die Haut“ geht, aber die passt nicht mehr in den ohnehin schon überfrachteten Satz hinein), wollen wir nicht wissen.

 

Na gut, wir wollen es doch. Stellen wir uns einen jungen Mann mit Jeanshose ohne Arsch drin vor, der beim Bücken zum gürtellosen Tommy Hilfiger wird. Vorne mit einer Pilotensonnenbrille ausgestattet, auf dem Kopf trägt er eine wollene Mütze. Sofern er sich eine leisten kann. Wenn er hier monetär versagt, schert er sich die Haare und belässt in sorgsamster Selbstgestaltungsleidenschaft einen winzigen Haarzipfel an Ort und Stelle. Den lässt er lang wachsen und tunkt ihn in Farbe. Fertig. Zurück zur Mütze: Die Mütze ist kolossal wichtig! Für alle Lebenslagen, siehe: Nuckelflasche. Nun zum geschichtlichen Hintergrund, von dem „Wikipedia“ lernen kann. Also: Zuerst trug ein frierender Obdachloser an einer brennenden Mülltonne in den Slums von Ur-Rap/Hip-Hop-Downtown eine wollene Mütze. Weil ihm kalt war. Und weil ihm immer noch kalt war, begann er epileptisch zu zappeln und zu rappen. Dann reichte man ihm eine goldene Uhr und eine großkalibrige Goldkette, schon war ihm viel angenehmer zumute. Dass heute überall auf der Welt wollene Mützen, sogar bei 30 Grad und mehr, getragen werden, ist der Verdienst dieses einstmals obdachlosen Mannes. Sofern kein Mützenvirus dahintersteckt, siehe: Nuckelvirus.

 

Von „Lounge-Kacke“ eingelullt verharrt man eine Zeitlang im Stau, worüber sich großer Hunger einstellt. Viele Augenblicke später dürfen sich an einer Raste Lieblingshassobjekte von Verbraucherschützern einverleibt werden. Hm, viel Fett, viel Zucker im Fast-Food-Tempel der Fixgastronomie. Nach einem Stau an der Kasse, dortselbst umringt von winselnden bis krakeelenden menschlichen Welpen. Vom Muttertier wurden sie in alle verfügbaren Kassenschlangen hinein platziert, damit die Familie nicht ausstirbt, versus verhungert, weil der Fettzuckerkram irgendwann alle sein könnte. Ist ein Welpe endlich an der Reihe, eilt die Restfamilie an die entsprechende Kasse und erst jetzt wird überlegt, was bestellt werden soll. Hier mangelt es eindeutig an Personenvereinzelungsanlagen. Weit und breit sind nur welche im chlorreichen Hygieneparadies um die Ecke zu finden.

 

 

Auf der Terrasse wird später mampfend über den weiteren Reiseverlauf diskutiert, und dass man bald Herzsprung passieren dürfte, kommt auch vor. Auf der A24 gibt es die gleichnamige Abfahrt, und Doctor Makarios wünscht sich für diesen Ort nichts sehnlicher als ein jährliches, vom Bürgermeister höchstselbst eröffnetes Schlagerfestival. Was wäre das für eine Bereicherung. Feinste Lebenssüße ließe sich einsaugen, sodass sich die Stadt Herzsprung bald um den Titel "Bad" bereichert sähe. Mit morschem, wenn auch fröhlichem Gekeif träten hier in Chloroform eingelegte Sänger und Musiker aus den „sozialistischen Nachbarländern“ auf. Legenden wie Václav Neckář („Kätzchen geht's gut“) oder die unvergessene Kati Kovács („Wind, komm bring den Regen her. Blumen verblühen und fallen in den Sand. Wind komm, bring den Regen her. Bring uns schlechtes Wetter her, Wind komm, bring den Regen her“). Lieber Bürgermeister von Herzsprung, sorgen Sie dafür, dass wir das noch erleben dürfen, fügt der Schreiber dieser Zeilen hinzu, während er sich gedanklich bereits am Ortseingangsschild von Rostock abarbeitet. Drum nichts wie hinein in die Perlenstadt an der Ostsee.

 

Bulbash muss ausgeliefert, im Hotel "Am Hopfenmarkt" und im Veranstaltungsort Pleitegeier2 eingecheckt werden. Dann fällt es einem wieder wie Schuppen von den Augen: Zeter und Mordio! Rostock, das ist doch die Stadt mit dem ausgeklügelten Einbahnstraßensystem (wer’s ersonnen hat, trinkt auch Schnaps gegen den Durst). Eine Straße verfehlt, für die nächsten Stunden verschollen. Dass die meisten vom Ring abgehenden Straßen verbotene sind, weiß nicht einmal Google Maps. Dauernd soll man irgendwo reinfahren, doch würde der Stimme Folge geleistet werden, dürften die dafür verhängten Bußgelder exorbitant in die Höhe schnellen. Ergo: Google Maps und das Ordnungsamt der Stadt Rostock machen gemeinsame Sache und füttern die leere Kasse. Das ist nachvollziehbar, doch nicht mit den Russian Doctors! (Wo ist bloß der Sack mit den vielen Ausrufezeichen hin?) Fürst Fedja schaltet das Handy ab, und Makarios übernimmt die Orientierungshoheit. So geht es bald Richtung „Volkstheater/Amtsgericht“ und Doctor Pichelstein fragt sich, ob damit ein und dasselbe Etablissement gemeint ist. Kurz zuvor geriet „Regines Näh-Laden“ in Sichtweite und Fürst Fedja warf ein, dass ein solcher Laden keinesfalls für Ja-Sager geschaffen wurde. Schließlich ist der Pleitegeier2 erreicht und es gibt sogar einen Parkplatz direkt in der Fritz-Reuter-Einbahnstraße.

 

 

Ach, die Monate und Jahre wüten durchs Land. Vor etwas mehr als einem Jahr gastierte man zuletzt hier. Ganz großes Kino war’s. Und heute, das sei vorweggenommen, wird es nicht anders sein. Pichelstein und Fürst Fedja bauen nach ersten Kaltgetränken rasch die Anlage auf, Makarios delegiert die Chose, erklimmt die Bühne. Schnell muss es gehen, der Club ist bereits zu großen Teilen besetzt, als der Soundcheck endet. Da werden sogar schon die ersten Zugaben herbeigerufen. Beim Soundcheck spielen die Doctors übrigens stets Lieder, die im Konzert nicht vorkommen. Oder sie proben neue, die später tatsächlich vorkommen. Oder es gibt lange nicht mehr gespielte, die vielleicht vorkommen. Sicher ist nur: Danach ist die Arbeit fürs Erste getan und man darf sich unters Volk mischen.

 

Noch gemahnt der Pleitgeier2 an einen pastoralen Ort. Dass aber bereits die ersten vier Flaschen Bulbash über den Merchtisch gingen, darf nicht verschwiegen werden. Pratajevs Rostocker Freundinnen und Freunde wissen, wie’s geht. Sogar die Ratte aus Stoff, seit einigen Konzerten stete Tourbegleiterin, wird trunken gemacht. Derweil trifft die Oranienburg-Teschendorf-Fraktion ein. In der Mitte ein Meetchen im Jungschwestern-Kleid, flankiert von baumstarken Feldmännern. So muss es sein. Und es gibt ein frisches Doctors-Fotobuch, den Band II, erneut in einzelner Auflage. Inhalt: Auftritte der Doctors im Beisein der Oranienburg-Teschendorf-Fraktion. Schnaps drauf und Widmung rein, wunderbar.

 

 

Mit geölter Stimme geht’s wenig später frisch ans Werk, mit dem „Rotarmisten“, der Pratajev nie war. Nach drei, vier Liedern bricht der Punk los. Bereits beim „Rundblick vom Turm“ stehen erste Pratajev-Freunde auf Tischen, werden die Texte mit Inbrunst intoniert. Die Stunden der Nordfrauen und Nordmänner schlagen. Pogo to gogo. Kämpfer ohne Furcht und Gnade, gelockt von reicher Pratajev-Liederbeute und Abenteuern, die Flasche in der Hand. Jaja, dass die östlichen Wikinger um das Jahr 839 „Rus“ genannt wurden, wovon sich später der Begriff „Russland“ ableitete, kommt nicht von ungefähr. Pichelstein scheitert, angepeitscht vom Publikum, knapp am Gitarrenschnell-Weltrekord und schlottert mit den Knien. Eine erste Schnapsbar bringt die Pause und hernach die zweite Luft. Fürst Fedja ist längst zur mannigfachen Selbstverkostung übergegangen, versorgt die Doctors, und die spielen einfach weiter bis in die letzte Zugabe hinein. Sogar die „Jungen Burschen“ und die „Pferdelunge“ müssen zu Gehör gebracht werden. So unfassbar klasse laut ist’s, dass man’s eigene Wort auf der Bühne nicht mehr versteht. Bis Doctor Makarios flehentlich: „Letzte Schnapsbar“ ruft, Doctor Pichelstein final wunde Finger in den Bulbash tunkt, und zart wie ein Walzerkönig loslegt.

 

 

Manch einer torkelt nach dem Konzert angeschlagen durchs Minenfeld der Schnapsgläser, Fürst Fedja muss sich einer Leibesvisitation durch KGB-Major Makarios unterziehen lassen. Der Grund ist simpel und unerlässlich: Ein Hotelschlüssel ist verlustig gegangen. Man sah es bereits kommen. Denn Schlüssel jedweder Art sollte man auf gar keinen Fall im Aggregatzustand volldampfender Lebensfreude in Händen des Wodkartell-Barons wissen. Da kann passieren, was will, das Ende ist vorgezeichnet. Wenn man die Schlüssel dringlichst benötigt, sind sie fort. Folterungen sind für die Katz. Das Wissen um das Ablegen der Schlüssel ist für immer verloren.

 

KGB-Makarios geht akribisch vor. Zunächst wird die fedjasche Jackentasche durchforstet, dann das Futteral. Detektiert wird nur ein Autoschlüssel, der kommt in Sicherheitsverwahrung. Dann wird der Inhalt des Merchkoffers umgekrempelt. Nichts. Schließlich ist das Tourauto dran. Unweit der Handbremse wird das kleine, unschuldige Ding geortet. So ein Glück. Darauf einen Bulbash, oder eine ganze Flasche am Tresen für alle. Bis der Taximann um die Ecke kurvt und sich Fürst Fedja mit einem satten Lächeln im Gesicht selbst verhaftet und in den Wagen Richtung Hotel schiebt.