Das böse Wort mit C (419)

 

Guten Morgen! Pichelstein schreckt hoch. Es klopft an die Pensionstür. Ein Hallo-Wachturm-Regent bittet um Einlass und da er ein volles Tablett Frühstück dabeihat, wird er zerknautscht hineingelassen. Der Mann redet wie ein Verschwörungsbuch. „Corona“, sagt er, „ist doch bloß eine Laborzüchtung aus den USA. Das haben wir alles den Amis zu verdanken.“ Dann setzt er noch ein paar luftfüllende Kalaschnikow-Salven drauf: „Ist meine Meinung. Wenn ich mal ehrlich bin. Was ich nur sagen wollte.“ Umschwärmt mit einem mindestens dreifachen „Sozusagen.“ Pichelstein reibt sich die Augen. Fehlt noch, dass der Mann Buntstifte herausholt, um die Sache detailreich zu erörtern. Nein, da geht man eine rauchen. Das Naherholungsgebiet Balkonien wurde einst als Fluchtprinzip konzipiert. Vor Feuer und zwischenmenschlicher Distanzlosigkeit. Wie wunderbar so ein weitläufiger Balkon doch ist.

Makarios und Fürst Fedja sind unterdessen auf der Pirsch, werden aber in Kürze mit einem Sack gejagter Pfannkuchen eintreffen. Nach dem gestrigen Bockwursttag muss Abwechselung sein.

Am späten Vormittag geht’s über die innerstädtische Serpentinenhölle Richtung Radeberg, dem Ziel der heutigen Reise. Dorthin, wo Doktor Oetker die gleichnamige Pizza … nee, den Pudding … oder richtiger: das Bier braut. Ort des für 18 Uhr angekündigten Pratajev-Spektakels ist das Hotel „Kaiserhof“, als „Biertheater“ in aller Gaumen Freude und Munde. Anlass ist Holger, der Gastgeber. Holger wird um Mitternacht 60 und zur Verblüffung aller schaffte es dieser Teufelskerl innerhalb von nur wenigen Stunden eine gesamte Party von Hřensko in Tschechien nach Radeberg in Sachsen zu verlegen.

 

 

 

Warum das alles? Donnerstagabend war die Grenze dicht, alles stand auf Absage. Nur Holger-sei-Dank sind die Russian Doctors an diesem Samstag in der überaus glücklichen Lage, ein letztes Konzert auf unbestimmte Zeit zu spielen. Denn es ist so, wie es ist. Ein Virus hat das Land im Griff, das böse Wort mit C macht die Runde. Es wird Zeit, dass alle von der Straße kommen. Lasst uns diesen einen, vorläufig letzten Abend in unbeschwerter Freude verbringen und dass dieser Vorsatz am Ende gelingt, ist ein sehr schönes Geschenk an die verblassende Unbeschwertheit des goldenen Seins.

 

An Schloss Moritzburg wird gehalten, Aschenbrödels Schuh sitzt, passt, wackelt und hat Luft. Gänse landen, grasen und kacken am See. Fürst Fedja seufzt, stellt sich das Federvieh schamlos nackt, schön gebräunt, mit tschechischen Klößen und Rotkraut auf dem Teller vor. Makarios beruhigt: „Die haben hier Suppen mit Linsen und Kartoffeln. Das ist ein Trost.“ – „Ein schwacher,“ findet Pichelstein, während Vollbluthengste in den Garagen stehen, wiehern und auf barocke Dinge warten.

 


 

 

Ein letzter Stopp vor Radeberg. Heiko Schnittecht überreicht Makarios eine Rarität. Der Vinylmeister fungiert als Produktionsleiter in einer jüngst umgesetzten Songpatenschaft-Serie. Als erstes wird in Kürze der Die Art-Klassiker „Ozean“ mit Urkunde und Platte vergeben.

(Intermezzo: Lust auf mehr? Auf Russian Doctors-Songpatenschaften?)

Dann auf zum Debüt-Eis des Jahres. Draußen, in der Sonne, die schön scheint aber kaum Kraft hat, schmeckt es am besten.      

 

Im Biertheater wird Kaffee für Fürst Fedja und Makarios gebrüht. Pichelstein macht dem Ort die beste Ehre. Bier für Doctor Pichelstein. Gleich noch eins? Mit dem größten Vergnügen, doch nein, der DJ rückt an, die Anlage muss aufgebaut werden. Gastgeber Holger wünscht sich „Auf dem Kanapee ein Girl“, doch Pichelstein hat die dazugehörigen sieben Seiten Text nicht dabei. „Sieben Seiten Text lassen sich schlecht merken“, spricht Makarios dazu wahr.

 

Das Programm wird erörtert, die Gäste tröpfeln ein. Jeder einzelne wird später bei Tische und Kuchen einzeln vorgestellt. Noch kommt es zu chinesischen Fußbegrüßungen, man hält so gut wie es eben geht Abstand zum nächsten. Seltsame Zeiten.

 

 

 

Los legen Pratajevs Erben mit einem ersten Songgewitter. Es endet im weichbutterzarten Duett „Die Enkelin und der Makarios.“ Gemeinsam wird die Kita-Version von „Auch die Ratte hat ein Herz“ dargeboten. Pichelstein spielt sanften Ska dazu, die Gäste klatschen vor Wonne. Herzergreifend! Manchem rutscht ein Tränchen aus dem Auge. Dem Doc ist die eigene Enkel-Erfahrung durchaus anzumerken; nicht umsonst wird er als Santa Claus gebucht. Dass Fürst Fedjas Wodkaknecht Ruprecht-Dienste bisweilen nicht abgefragt wurden, lässt sich gewiss bald korrigieren.     

 

Was folgt ist eine lehrreiche Verkostung bis zum Diskant. Am Ende wird Champagner-Bier für 12 Euro pro Flasche ausgeschenkt. Pichelstein schlürft's nur so weg. Ist das lecker! Der zweite Kellner nach dem ersten: „Oh, ein leeres Glas. Noch nichts bekommen?“ Der erste Kellner nach dem zweiten: „Da habe ich Sie wohl gerade übersehen?“ – „Und mich auch“ (Fürst Fedja, heutiger Saftschorlenmann, reicht das Glas weiter).

 

Der nächste Höhepunkt ist ein kulinarischer – die Buffet-Schlacht wird für eröffnet erklärt. Es bilden sich Trampelpfade. „Hm!“ und „Ah!“ entfährt es jedem bei vollem Mund. Bis zum Nachtisch und satt wie „Der Satte“ aus dem zweiten Doctors-Set lehnt man sich im Stuhl zurück und schafft es vielleicht noch mit letzter Kraft einen Radeberger Bitter zu schnabulieren.

 

Makarios gibt den Pratajev-Takt vor, es wird geschunkelt, die Füße trappeln. Noch einmal wird die „Ratte“ im Duett besungen und zum Schluss folgt die tragische Version der „Schnapsbar.“ Nicht einfach nur eine tragische Version im langsamen Tupf-Walzertakt. Nein. Viel tragischer. Die Docs verabschieden sich auf unbestimmte Zeit von der Bühne. Das böse Wort mit C wird Auftritte canceln und eine Woche nach diesem wunderbaren Abend möchte man die Zeit gerne zurückdrehen und wieder hier sein. Auf Holgers Geburtstag. Bleibt gesund.