Shabbat Shalom (423)

 

Eigentlich wäre genau heute Hofnacht in Pirna, aber dieses an den Anfang gestellte Adverb kann wirklich keiner mehr hören. Eigentlich fühlt sich in Corona-Zeiten dann auch uneigentlich an. Und während in der Hauptstadt ein demonstrierender Offline-Zorn, bestehend aus Nazis, Verschwörungsheinis, kruden Impfgegnern (aka: Seuchenfreunden) ramentert, kutschen die Doctors davon völlig unbeeindruckt unter strahlender Sonne im Diesel-Golf nach Pirna.

Mal ehrlich, solches Tun, solches Geschepper ignoriert man bestenfalls mit einem mehr als gestrichenen Teelöffel Verachtung. Verachtung ist eine super Sache, nicht gegenbrüllen oder diskutieren, nein, verachten und sich darunter mit einer Wespe freuen, die den Weg aus dem Autofenster nach draußen gefunden hat.

Max Goldt hat über die Verachtung bereits vor Jahren buchgeführt und damit gut, denn Max Goldt hat recht. Nicht aufregen. Stattdessen ignorieren und verachten. Mit möglichst interessanter Mine, was in gewisser Weise Spaß macht. Sollte dieses Unterfangen, etwa beim Durchlesen von Facebook-Kommentaren, nicht sofort klappen, hilft auch: Print-Ausgabe einer Tageszeitung kaufen und mit einem knatschenden Kuli, aus dem die Tinte nur so herausspritzt, rüde Texte unter Berichte kritzeln und sich am Ende still und heimlich freuen, dass die böse Welt da draußen nichts davon mitbekommen hat.         

 

Warum kutschen die Docs heute trotz ausgefallener Hofnacht gen Pirna? Ulf sei Dank! Denn Ulf, der Hofnacht-Derwisch aus der Langen Straße, langjähriger Impressario und stets für alle Lebensfreuden zu haben, lädt zum halbprivaten 80. Geburtstag eines geschätzten Familienmitgliedes ein. Inklusive Desinfektionsschwester und innerer Bulbash-Reinigung am Einlass; Fürst Fedja hat heute Pirna-Bann und kann den beklatschten Job leider nicht selbst erledigen - nein, nein, alles gut, der CEO der Tank Company ist gerade in Sachen Bareröffnung schwer gelitten.

 


 

Wieder dieses „eigentlich“ – nur einmal noch. Also: eigentlich stehen sich die Menschen in Ulfs Hof am ersten Augustwochenende in den Schuhen. Heute geht das aus bekannten Gründen nicht, so werden sich im Laufe des Abends etwa 30-40 Freitrinker (die Zahlkasse bleibt aus einem kleinen Missverständnis heraus geschlossen) auf Bänken einfinden, Abstand zu fremden Familienpulken wahren, den Docs bei der Arbeit lauschen und hemmungslos jubeln. 

 

 

 

Die haben mitunter das Ziel erreicht, Kaltgetränke schnabuliert, die Bühne aufgebaut und danken im Nachgang der Ulf-Crew fürs schwere Schleppen mitgeführter Gerätschaften. Sehr erfreulich ist zudem, dass einige Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Pirnas anwesend sind. Shabbat Shalom! Sobald es dunkelt, muss gesungen und gefeiert werden. Auch die Jubilarin freut’s, es wird angestoßen bis die Becher bersten. Doch da es noch hell ist und erstaunlicherweise keine Gewitterausmaße wie in den Jahren zuvor den Hof fluten, sind die Erben Pratajevs als erste dran. Mit Bulbash an den Lippen stimmt Pichelstein Gitarren, während Makarios die Sonnenbrille absetzt und für immer verlieren wird. Ungewöhnlich ist das nicht.

 

 

Bei einem Toast auf angereiste Berliner Gäste hält anfangs der Wind den Atem an und ein wild mäanderndes Sauna-Konzert in Kurzhosen nimmt seinen hitzigen Lauf bis die letzten Leuchtkäfer verglühen. Unvergessen bleibt darin die Premiere des „Baffen“, natürlich der Pausengesang der Jüdischen Gemeinde, bleiben die Zugaben, die zur Bühne geleiteten Stoffe, die Rost aus den Stimmen spülen und den Gitarren-Boliden befeuern. Der Globus schrumpft darunter zur überschaubaren Landkarte und die besteht einzig und allein aus diesem Abend, aus dieser Pirna-Nacht. So friedlich und still - aber erst nachdem der letzte Akkord verklungen und die letzte Schnapsbar gesungen ist.

 

Plötzlich: ein Knistern und Knacken, ein Krachen, ganz nah. Ein wollender Wachhund am Unterwelteingang zur Pirnaer Mythologie zerkaut einen Trockenfisch. Die Glocke schlägt einmal. Zeit, sich in die Pension zu trollen.      

 

  

 

Bild 2: JRS

Bilder 3&4: Antje Davids-Weis