Freiheit für Quittenbüsche (437)

 

Indian Summer! Dritte Jahreszeit, in der Pilzsammler Waldleichen entdecken. Goldener Herbst! Nein, keine trüben Gespräche über vorletzte Lebensabschnitte drohen. Im Gegenteil: Ein Tohuwabohu steht an, ein Naturkonzert am Leipziger Gleisdreieck-Areal, wo der Kleingartenverein (KGV) Reichsbahn-Connewitz e.V. sein Domizil hat.

 

Genau das möge bitte für immer so bleiben, obschon die Stadtwerke genau hier ihre nigelnagelneue Unternehmenszentrale zu errichten gedenken. Da darf sich jeder Pächter Sorgen machen. Vor allem, wenn man selbst nicht in derartige Pläne eingeweiht ist, nur die BILD-Zeitung alles besser weiß.

 

Die Doctors drücken alle Daumen, dass der KGV Reichsbahn-Connewitz bleibt. So eine schöne Gegend verballhornt man nicht mit Beton, Stahl, Glas und Strombörsen-Yuppies. Freiheit für Quittenbüsche! Und lieben Dank für die Früchte, sagt vorab der damit reich beschenkte Marmeladendoctor Makarios.

 

Die Sonne gibt noch mal alles, auch wenn die Tage plötzlich verdammt kurz geworden sind. Es ist einer dieser Herbsttage, an denen nachmittags noch T-Shirts, abends jedoch dicke Jacken verordnet werden. Pichelstein lenkt den frisch geTÜVten Tourdiesel mit Schwung von der Arno-Nitzsche-Straße in die Kleingartenschlippe, wenig später folgt ein herzliches Hallo. Gastgeber Stefan hatte bereits Mitte des Jahres Geburtstag, heute wird die Gattin ein Jubeljahr jünger. Grund genug für eine bis in den frühen Morgen ausufernde Party im Grünen.

 

Getreu der alten Handwerkweißheit: „Viele Hände, schnelles Ende“ steht die überdachte Garten-Air-Bühne in Windeseile. Pichelstein entwirrt noch ein paar Kabel, dann geht’s zum Soundcheck über. By the way: In Sachen Kabel weiß jeder Gitarrist: Die Dinger führen ein Eigenleben. Du kannst sie noch so gut verstauen, am nächsten Tag kommt die Bagage einem Gordischen Knotenwerk nahe.

 

 

 

Es dunkelt bereits, als der von den Doctors verehrte Jens „Der Mann der mit der Luft schimpft“ Rachut aus den PA-Boxen röhrt und der Soundcheck für beendet erklärt wird. Feuerschalen werden entzündet, Kaltgetränke direkt auf der Bühne gezapft. Wie praktisch! Eine Bierfass-Quelle neben Doctor Pichelstein. Das ist sehr lobenswert, sollte gerne öfters vorkommen, weil: spart den Weg zur Theke. Und genau dort sieht man Makarios im Mischgeschäft stehend, gestikulierend, denn eben drang die Nachricht durch, dass die Grill-Schaschlikspieße fertig sind. Fortan wird es sehr schwer, all den feilgebotenen Leckereien zu entkommen, sich schlussendlich Ketchup vom Sakko zu wischen und mit dem Konzert zu starten.

 

Noch einen Mexikaner für Doctor Pichelstein. Einen mit Ingwer. Noch einen. Und danke (am nächsten Tag) für eine ganze Flasche davon. Wie gut, dass die rote Scharfwürzleckerei mit Wodka schwanger ging. Und nicht, wie einst am 24. Oktober 2009, im Chemnitzer „Subway to Peter“, auf Tequila-Basis gereicht wurde. Seit jenem Tag mit der Konzertnummer 191, Titel: „Überrollt von einer mobilen Schnapsbar“, verzichtete Pichelstein auf alles, was nah am Mexikaner gebaut war. Mehr muss man dazu nicht wissen.    

 

Mit „Da hält der Wind den Atem an“ geht’s los. Sieben weitere Titel folgen, ehe der „Gärtner“ dran ist. Erst jetzt spürt Torpedo Pichelstein die Finger auf dem Stahlsaitenruder wieder. Was für eine Erleichterung; als sich der erste Schwitzbach auf die Schwerkraft-Reise macht, gleich alles einem aufwühlenden Vergnügen mit eskalierenden Gästen. Sogar eine Tierärztin ist heute dabei. Natürlich wird sie gerne bestätigt, Pratajevs Kunde von den Tierärzten, die in Russland auch Menschen heilen.

 

Nach dem ersten, einstündigen Brachialgewitter (und ein paar zarten Tönen) darf Pause sein. Spontan übernimmt eine Hiphop-Crew und rülpst mangels Wortwitz-Textsicherheit in die Mikros. Der Schnaps wirkt, die Kappen sitzen, Funken schlagen aus den Feuerschalen. Motiviert bis Oberkante Unterlippe schwingen sich die Docs zurück auf die Bühne. Nicht, dass sich Pichelsteins Finger wieder erkälten.

 

 

 

Makarios lotst die Gartengäste weiter durchs Pratajev-Universum, biegt – auf Zuruf – hier und da ab, verläuft sich aber nie. Ein Pulk Wegelagerer wird eingesammelt. Der „Satte“, das "nach Schnaps stinkende Mütterchen", der „Wanderer“, die „Schwimmerin“ und wie sie alle heißen. All das kulminiert schließlich zu einem großartigen Tote-Katzen-Chor - bis die eigentlich allerletzte Schnapsbar den Abend für gelungen erklärt.

 

Doch „eigentlich“ ist auch nur ein überflüssiges Füllwort. Leicht wie zwei Karosserie-Federn plus Stoßdämpfer und Lichtmaschine taumeln die Docs noch mal ins Scheinwerfer-Feuerschalen-Licht, wiederholen „Wodka Wodka“, tanzen mit den Feldmännern und liegen sich schlussendlich nach einer allerletzten Walzer-Schnapsbar in den Armen. Da öffnet sich jedes Herz. Und ein Hund, vielleicht namens Schröder, wedelt freudig mit dem Schwanz. Maximalen Dank für alles, liebe Gastgeber und Gäste.