RUSSKAYA DISKOTEKA (439)
Tag 2 vor 2G. Im Zwickauer Merkur-Hotel frühstücken die Doctoren mit dem künftigen Upgrade-Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft, Danuta Molotova. Umgegeben von poliertem Holz mit Ausblick auf Spielbank an Sexshop. Sicherlich war das Merkur mal das beste Haus am Platz und genau dieses Gefühl kommt beim vierten Kaffee tatsächlich auf. Zum Abschied ruft der Herbergsvater ein Taxi retour Richtung Neubaugebiet. Sightseeing ist angesagt. Resümee: eigentlich eine schöne Stadt, so unfertig, teils brüchig. Mit chinesisch geprägten Investitionsruinen, aus denen blühende Birkenlandschaften himmelwärts wachsen.
Noch einmal ausstrecken, dann knattert das Tourauto gen Heimat zurück. Dachte man eben noch, bis das Finale einer packenden Landpartie mit Vollsperrung (weil Frontalzusammenstoß in Sichtweite) auf der Buckelpiste Richtung Borna jäh unterbrochen wird. Vielleicht hätte man doch die Autobahn nehmen sollen. Aber gut, dann wäre der Zufallsbesuch eines Biolädchens im (flächenmäßig durchaus möglichen) Herzogtum Groitzsch nicht zustande gekommen. Pichelstein interessiert sich für Möhren und Gurken, Makarios verlässt den Schuppen mit einer Tüte Allerlei. Am frühen Nachmittag ist Leipzig tatsächlich erreicht. Mittagsschlaf, Gitarren besaiten, so was halt.
Treffpunkt Schleußig: 17 Uhr. Die Doctoren dürfen mit einem Lächeln im Knopfloch heute noch mal auf die Bühne, auf das einzig Verlässliche, was zählt. Wenn eben nicht Corona wäre. Und weil Corona wieder mal wütet, fallen – um es vorweg zu nehmen – beide Konzerte am folgenden Wochenende in Dresden aus.
Auf zur Stippvisite in den Südstadt-Soziotop nach Connewitz, wo weinerliche Wellnessresistenzen mit Inhalten Abseits großer Graffiti-Lexika mauergetaggt sind. By the way: warum sprüht keiner: „Die Welt gehört Pratajev, wir dürfen bloß darin leben“? Kommen wir zum Anlass des Tages:
Kons.tanze wird Schlag Mitternacht 41. „Ich mag lieber die ungeraden Zahlen und gern ein wildes Motto zum Geburtstag“ sagt sie, und trägt mit größter Sorgfalt dazu bei, dass mit einem knallroten Stern und einer Discokugel der Krause-Himmel heiß getüncht wird. Ja, richtig gelesen, der Krause-Himmel. Wo doch in diesem (wie im letzten C-Jahr) kein traditionelles Jahresabschlusskonzert stattfinden kann, ist es umso erquickender, doch noch der Frau Krause Hallo zu sagen. Dort, wo die Brücke von der Bühne zum Publikum stets über einen reißenden Wodkastrom führt, in dem man schon des Öfteren versank, aber stets wieder an Land gefischt wurde.
Pichelstein schleppt die Backline ins Warme, bastelt mit dem Techniker den Sound zurecht, während Makarios sich auf ein paar Worte der trinkfest am Glase verwachsenen Stammtischgesellschaft widmet. Wie immer geht es um die wichtigen Dinge im Leben, um Chemie Leipzig, den Roten Stern, um Eishockey natürlich, ums UT Connewitz. Pläne werden geschmiedet, als gäbe es kein Corona. Aber gut, die Seuche muss ja irgendwann vorbei sein. Zumindest derart vorbei sein, dass andere Sujets wieder in den Vordergrund rücken. Nein, kein Pimmel- oder Gendergate. Dinge, die noch wichtiger als Chemie Leipzig sind. Bezahlbare Wohnungen. Humanitäre Flüchtlingshilfe. Pflegenotstand. Facebooks Zuckerberg kauft nach George Orwell die Zukunft für einen (symbolischen) Bitcoin. Und zwar die gesamte. Nach Instagram-Nutzung ist mit dem Befall digitaler Chlamydien durch infizierte Influencerinnen zu rechnen. Korruption. Plastik im Fisch. Elon Musks Jünger zerstören durch einen einzigen Tweet ihres Tesla-Gottes an nur einem Handelstag die gesamte Weltwirtschaft. Ausweg: Mars voran. Und so weiter. All das, worüber man die Stirn wie ein gebürtiger Klingone in Falten ziehen kann. Nicht muss. Aber kann.
Schnitzel-Zeit! Noch eine wunderbare Krause-Tradition, die gerne im einen oder anderen Becherovka mündet. Satt und gespannt harren die bereits ge-soundcheckten Docs der Dinge; Kons.tanzes Gästereigen kulminiert gegen halb neun zur Vollzähligkeit; die Geschenkeecke biegt und verneigt sich. Russen-Look, was geht? Geschmackvoll gekleidete Menschen bestimmen das Bild. Zwar kann keiner der Inkasso-Igors und Natalja-Zarinnen vorm DJ-Pult Russen-Hocke, dafür werden alsbald gläserweise Bulbash-Flaschen geleert. Als hervorragende Antriebsfedern für einen gelungenen Abendauftakt. Los geht’s mit donnerndem Pratajevbewusstein. Der DJ schweigt, es tönen die Docs.
Die Hermeneutik ist die Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens. Beim Verstehen verwendet der Mensch Symbole. Er ist in eine Welt von Zeichen und in eine Gemeinschaft eingebunden, die eine gemeinsame Sprache verwendet … So könnte man es philosophisch-pragmatisch erklären, was in gemeinsamer Tanz- und Singandacht in den nächsten Stunden geschieht.
Makarios führt meritenreich durchs Pratajev-Spiegelkabinett und als nach der ersten Pause immer wieder an der Schnapsbar gefragt wird: „Hat es Pratajev wirklich gegeben?“ darf als Replik süffisant geantwortet werden: „Aber natürlich, ja doch. Man sollte es für sich entscheiden, oder?“
Bis über die Zugaben hinaus gibt es kein Halten. Pichelsteins Finger stehen unter Feuer, mit großer Stimme löscht Makarios nach der letzten Schnapsbar. Gut soll es sein, sehr gut war es. Das nach Ladungen zünftigen Vodkas tosende Publikum lässt die Docs aus ihren Fängen und franst glücklich auseinander. Danke, liebe Kons.tanze! RUSSKAYA DISKOTEKA!
Bilder: Party/Kons.tanze