Kein Tag zum Aussterben (458)

 

Der früh dunkelnde Herbst zeigt sich von seiner nassen Seite. Doc Pichelstein lässt die Scheibenwischer anlaufen und macht sich auf den Weg ins Schleußiger Grün. Oh Wunder, kein Stau. Was ist los, Leipziger Feierabendverkehr? Die Folge: zu früh beim Doc Makarios. Bedeutet: Warten. Im absoluten Halteverbot. Innerhalb einer sogenannten Echokammer der Empörung. Merke: Die in Schleußig zu Hauf lebenden Möchtegern-Upperclass-Familien besitzen mindestens einen Leasing-SUV, fahren aber tagsüber ständig Lastenrad mit Kinderballast. Weil man sich darauf so wunderbar über Falschparker im absoluten Halteverbot empören kann. Ohne Treuepunkte zu sammeln, also: völlig umsonst.  

 

Einige Wartekippen später ist das Plagwitzer Plaque erreicht, besser gesagt: die Stallwache im Westwerk. Home of Bulbash, Kingdom of Frank „The Tank“. Ein Teehaus Protnik aus Pratajevs Kosmos, in dem man von Gedichten in vielen Lebenssituationen abgeholt wird, wie man es in der Kunstwelt über Gemälde sagt. Somit ein unbezahlbares, kohärentes Gedicht: Sei kein trockener Duckmäuser / Knie zum Ritterschlag mit einem Glas Bulbash in jeder Hand / Dann bist du ein Kaiser / Einer mit Zaubertrank / Ein Weiser. 

 

 

 

Zwei Jahre Stallwache harmonieren an diesem Donnerstag prächtig mit der Bulbash-Masters-Reihe, zu der die Doctors erneut geladen wurden. Und, damit der geneigte Genießer voll auf seine Kosten kommt, gibt’s für limitierte Ticketinhaber standesgemäße Paralleluniversum-Tabletts. Befüllt mit einer namhaften Dosis Osobaja, Chlebnaja, Birkenblättchen, Honig/Chili, Bisongras und Moosbeere.

 

 

 

Herumgesprochen hat sich das alles bis ins Brandenburgische, was wiederum dazu führt, dass der Preis für die weiteste Anreise nach Birkholz geht. An Kalf und Chrissi, die Geburtstag hat, was früh zu einer ausufernden, gläsernen Prösterchen-Landschaft führt.

 

So wie Eishockeyspieler über Fußballer sagen: „Da hilft kein Rumrollen auf dem Rasen", schraubt Pichelstein emsig die Bühne zusammen, wuchtet Boxen und bittet zum Soundcheck. Noch ein paar Knöpfchen am Mixer gedreht, „Hollaröhdulliöh“ ins Mikro gerufen, das „Jägerlatein“, „Lila Nina“ angespielt, schon heißt es: sitzt, passt, wackelt, hat Luft. Die Bauch-Anschmink-Pizzen sind da, die Stallwache füllt sich.

 

Sogar mit Impressario André Streng, mit Falk (Willkommen Zuhause, Laika) und Jörg (Weltklasse-Degenfechter) Fiedler. Allesamt lange nicht gesehen. Ebenso den Gärtnermeister-Kavalier (vom Scheitel bis zur Sohle), Paschka Parlierowna aus einer Hochstaplerdynastie am Zarenhof und viele mehr. Mit Pilotenbrille, schickem Jackenfimmel oder ohne.   

 

 

 

Das Konzert findet in drei Blöcken statt. Was man bereits vorm ersten Ton an weiß: Heute ist kein Tag zum Aussterben, es kann nur wild werden, weil es bei den Stallwache-Kammerspielen stets wild zugeht.

 

Doctor Pichelstein schickt sich an, Gitarren zu stimmen, Doctor Makarios sputet mit einem Kaltgetränk in Händen herbei. Gäbe es einen Vorhang, würde er sich prominent von der Bühne erheben.

 

Trainierte Docs sind gleich im Flow, zügellos an der Gitarre, rau und herzlich im Gesang. Adrenalin, Endorphine im Blut, befeuert vom Applaus und Wodkaschmaus. „Der Faule“ ist früh mit von der Partie. Auch „Die Zarte“ und einige mehr aus Pratajevs Gefolge. Auf donnernden Schwingen fliegen die nächsten drei Stunden vorbei. Pausen folgen nächste Streiche, stets mit einer „Schnapsbar“ veredelt. Oh „Biber“, oh „Schlips aus Lurch“, oh „Tasche“, oh dies und das und jenes. Es bleibt mit letzter Verneigung ein: Danke fürs Kommen, liebe Menschen. Danke, lieber Frank „The Tank“, lieber Schmo, unser aller shakender Teufelsaustreiber.

 

 

 

Am Ende leert sich die Stallwache, heckt Falk mit Doc Pichelstein bis zum letzten Wodka Bundesaltenspiele für robbende Menschen aus. Möglichst in Opernnähe, am Augustusplatz, soll das Ganze geschehen. Ein Taxi wird gerufen.

 

Draußen herrscht schwermütige Nacht. Was man über die nahe Zukunft weiß, ist dies: Da werden Farben sein, Weihnachtslieder. Elemente, die in einer Illusion leben. Leicht, bis der Dreck von der rosa Brille weicht / Schwer, bis die Sonne den Mond beißt / PS: Lieben ist das Mutigste / Was man in diesen Zeiten tun kann.