Die vergessene Überschrift (259)

 

165 ungarische Gastarbeiter ließen sich kürzlich in Bad Doberan nieder. Man sah bereits welche bei Lidl Schnaps kaufen. Über Weiber, um es mit Pratajevs Fasson zu sagen, liegen bisweilen keine Erkenntnisse vor. Die Einkäufe lieferten sie nach schwerer Gerüst- und Erbauerarbeit in Pensionen und Unterkünften aller Art ab. Wirt Gunnar wurde es so nicht leicht gemacht, den Doktoren ein entsprechendes Nachtdach in Organisation zu bringen. Schließlich klappte es doch; eine Stammgast-Anästhesistin (im Volksmund würde man „Gasfrau“ sagen) stellte ausreichend Raumvolumen, unter Höhenbegrenzung, zur Verfügung.

 

Der Morgen danach: Frühaufsteher Makarios samt Herbergsgasfrau rätseln draußen, an rauchfrischer Luft lange, wann Doktor Pichelstein aus verdienten Tiefschlafphasen gerissen werden möchte. Gar nicht. Aber auf Tour funktionieren Musiker ja auch ein bisschen wie alte Ehepaare, nicht selten schlafen sie sogar in Ehebetten. Kurz gesagt: ein zackiges „Mein Doktor, Frühstück!“ löst die Gemengelage ab 11 Uhr schmeichelhaft.

 

Besagtes Mahl wird gegenüber vom Moritz-Pub eingenommen; es besteht in erster Linie aus einem Monsterteller mit Rührei drauf. Zunächst wird geschlungen, dann gepustet, stellt sich der Gedanke ein, dass man heute nie wieder zur Nahrungsaufnahme bereit sein wird, all die leckeren Räucherfische verschont bleiben müssen. Viel später, beim ersten touristischen Zwischenstopp in Kühlungsborn, geht immerhin noch ein Stück Bienenstich hinein. Doch zunächst folgt der Abschied aus Bad Doberan, wird der Gunnar geherzt. „Was für ein Lieber“, schwelgt Makarios zum Pichelstein im Auto bei Tempo 20. An der Küste sind es weder Landmaschinen noch Protestmärsche, die den Verkehrsfluss lähmen. Nein, es sind überwiegend Senioren-Radrennen unterwegs. Sechzigplus auf Rennrädern mit Apotheken-Begleitfahrzeug samt Polizeieskorte. Amüsiert darüber folgen die Docs den Hechlern bis zur nächsten Attraktion. Nahe des Deutsches Hauses einer Durchfahrtsstadt schwenkt ein mongoloider Mann seine Landesfarben und begrüßt die einfahrenden Autos via Hitlergruß. Soll man schockiert sein? Natürlich nicht, der Mann wurde gewiss instrumentalisiert. Werbung fürs Deutsche Haus vielleicht. Man möchte ihm aus Mitleid einen Teller kalte Suppe kredenzen.

 

 

Weiter geht’s. Genauer: zum Aufstieg des Leuchtturms von Bastorf. Herrliche Aussicht bis hin zum Ostsee-Windpark. Wie gut, dass Schwindelfreiheit vorherrscht und schade, dass noch niemand das Buch „Die Einsamkeit des Leuchtturmwärters“ geschrieben hat. Am späten Nachmittag erreicht man, erneut durch alle Wetter, die Landeshauptstadt Schwerin, träumt von einem Platz am See, findet ihn nicht, es gibt einfach keinen Zugang. Den Beschilderungen nach besteht Schwerins Speckgürtel zum großen Teil aus Kliniken aller Art. Irgendeiner wird letztlich im Schritttempo gefolgt, schon gibt’s einen ruhenden Ausblick samt Kaffee. Linke Tischnachbarinnen: Gespräche über Männer, die am frühen Samstagmorgen Dachrinnen reparieren, rechte Tischnachbarn: Thor-Steiner-Fraktion. Heile Welt beim Entenfüttern.

 

Die neue Schweriner Spielstätte der Russian Doctors ist der Stadtkrug, ein ehemaliges Brauhaus, gleich um die Ecke vom Schnitzelparadies Zeppelin. Imposant! Vermutlich 300 Sitzplätze im Ganzen. Beim ersten Durchschreiten wird der Lange glatt übersehen, der doktoreske Technikmann von Himmels Gnaden. Hat die Bühne bereits aufgebaut, hervorragend. Direkt in Thekennähe. Nichts kann besser sein, als das. Schon folgt ein leckerer Schnitzelteller dem anderen, fließen Kaltgetränke aus den Zapfhähnen, obsiegt die Lust am Ruhen. Doch das geht ja nicht. Viel zu hastig schleppt Doktor Pichelstein das Equipment in Position. Wie ein Seniorenradhechler sinkt er schlussendlich auf dem nächstbesten Barhocker nieder, bekommt von der Wirtin einen Kräuterschnaps zur Stärkung gereicht. Doping ist erlaubt, erst recht im Musikbereich. Ein kurzer Soundcheck lüftet die Gemüter, wollen mal schauen, ob’s denn auch voll wird heute.

 

Wird es. Die neue Heimstatt der Doctors ist geboren. Das Konzert kennt keine Ufer, die Pause ist ein Segen, vorm Stadtkrug fragt Doktor Pichelstein in die weite Runde, wie man die Überschrift des Tourtagebuches heute benennen soll. Mannigfaltige, renommierte, sehr passende Antworten sind die Folge. Keine konnte überliefert werden. Stattdessen werden kleinere Rekorde im Hochgeschwindigkeitsspielen auf der Gitarre gebrochen. Bis die Leibchen beider Doktoren klatschnass, im letzten Zugabewunschblock, um sofortigen Auszug bitten. Und ja, „Wiege Deinen Rumpf“ kommt auf die nächste Platte. Schon jetzt sollten sich einzelne, künftige Besuchergruppen um eine entsprechende Choreographie bemühen. Das wäre herzallerliebst.