Der verkohlte Veggieburger (306)


Das jährliche Ehemaligentreffen einer generationsübergreifenden DDR-Schulform, von der Doctor Pichelstein wenig versteht, weht Pratajevs Erben in die Moritzburg zu Halle. Der Sommer hat sich erledigt, Herbst steht in Büschen und Tomaten. Nass ist’s, die Tankstellen-Bockwurst wartet auf einen verdienten Verdauungsschnaps. Bis dieser feilgeboten wird, dauert es noch eine Weile. Zunächst heißt es: Akklimatisieren, dem Soundcheck der Kollegen von Lizard Pool lauschen, Prominenz aus den Reihen der Pratajev-Gesellschaft begrüßen. Winogradow überreicht Doctor Pichelstein eine Basecap mit dem Logo der legendären Eishockey-WM 2010 (Deutschland stand endlich mal wieder im Viertelfinale), der schnellste Gitarrist der Welt strahlt über beide Backen. Rasch zur Bratwurst, damit sie rund und füllig werden.

 

Fast wäre es passiert: In der Hoffnung auf ein flottes Steak zeigt Doctor Makarios auf ein rätselhaft aussehendes Stück Ding am Grillrand. Der diensttuende Mann mit der Zange und den Senfflecken am Revers zeigt sich verblüfft. Will einer der wohlgenährten, überaus gesund dreinschauenden Herren Musiker tatsächlich einen Veggieburger? Als der furchtbare Irrtum ans Licht gerät, das Enigma gelöst ist, schütteln sich alle vor Lachen. Also Wurst. Vom Schwein. Und das muss sein. Wurst macht Durst.

 

Die Schnapsbar auf der Konzertebene hält schwarze Gerstensäfte vor. Soll ein Schnaps die Problemzonen des Körpers befrieden (beim hungrigen Mann sind damit gewisse Innereien gemeint), muss man eine Etage höher wandern. Zu den Rauchern von Halle, nicht von Bolwerkow. Es folgt eine bewegende Eröffnungsrede, mit allerlei Information gestückt. Und wie jede bewegende Eröffnungsrede, die mit allerlei Information gestückt ist, beginnt auch diese mit einer furchtbaren Mikrofonrückkopplung. So ist es, es wird es nie anders sein. Das Leben ist ja derart unbeständig geworden, auf nichts ist mehr verlass, klagen selbst die Psychotherapeuten der Patienten, die sich mit genau dieser Gemengelage an eben die vom Leben hoffnungslos überreizten Psychotherapeuten wenden. Wie froh ist man deshalb, vertraute Dinge erleben zu dürfen. Lizard Pool legt los. Größer Sound, sehr schön. Mit von Sinneslust geschwollenen Adern.

 

Danach sind die mittlerweile schnapsgestählten Doctors dran. Dem Line-Check folgt der erste Konzertblock. Doctor Pichelstein legt los, als habe er gerade am Grill rasch noch eine dicke Jagdwurst verzehrt. Mit einer friedfertigen Erzählmelange aus russischem Wirtshaus und ukrainischer Datscha bewegt Doctor Makarios derweil die Menschen. Das Rauchen in der Ebene versteht sich von selbst. Die ersten Musikwünsche werden laut. „99 Luftballons“ sollen es sein. Pichelstein kann dieses Liedchen natürlich spielen; schließlich gehört’s zum Repertoire eines jeden Gitarrenlehrers, der er einst in Münster mal war.

 

Makarios indes stoppt diese musische Kleingärtnerei ganz schnell, weiter geht’s durchs wilde Tour-Distan, durchs Programm. Über die Tiere, die gefesselten Damen, die bückenden Herren. Der Turm singt mit, der Turm tanzt. Ein verheißungsvoller Ort, voll mit ehemaligen Schülern, schreitet geschlossen zur Genesungstherapie. Schlank und rank und öfter auch ein bisschen rund um den... ähm, Gürtel. Auf die Pause wird glatt verzichtet. Schon trällern und musizieren Pratajevs Erben und Solitäre in die Zugabehonorigkeiten hinein, weht draußen ein Wind überm leeren Grill. Doch nein. Was ist das? Ein kleiner Veggieburger, schwer verkohlt, das arme Ding, dampft tapfer vor sich hin. Kühe und Veganer aller Länder, vereinigt Euch, schreitet Seit‘ an Seit‘ dem Morgenrot entgegen. Seht auf diesen Veggieburger! Mit einer Kirsche obenauf sieht das Leben wieder lecker aus.

 

Dann ist es geschafft, die segensreiche Bühnenarbeit ist verrichtet. Manchem Gelehrten wird am Magazin der Doctors Pratajev lyrisch näher gebracht. Die Schnapsbar scheint im matten Licht, von allen Seiten rollen Gläser auf die Doctoren, auf Fürst Fedja zu. Mit letztem Kampf gelingt die Leerung. Pichelstein bemüht den Selbstversuch und beißt in den verkohlten Veggieburger hinein. Er überlebt nur knapp. Schon parkt das Tourauto an Halles Güterbahnhof. Und während direkt gegenüber vom Hotel Europa eine Busladung mittlerer Herren in unauffälliger Montur um Einlass im Puff begehrt, steht das Mitleid der Doctors den Damen Pate.