Ist der Kittel abends weiß, zeugt das nicht von großem Fleiß (310)
Wieder neigt sich ein Doctors-Jahr dem letzten Kalenderriss entgegen, traditionell soll es im Leipziger Klein-Žižkov, in der „Frau Krause“, zu Ende gehen. Wo ist denn nur wieder die Zeit geblieben? Wie eh und je tafelt der Tross in seiner Stammecke Krause-Burger. Gutes aus dem Stall, panierte Schnitzel von glücklichen Schweinen. Dazu ein kräftiges Würzfleisch. Man muss schließlich vorsorgen, denn Erntedenkfeste im Leipziger Süden sind nicht von trockener Pappe. Sondern bisweilen eher geprägt durch orgiastische Stelldicheins, drollige Augenblicke, goldene Sterntalererlebnisse, fatalistische Glücksgefühle, die schon mal mit einer Stippvisite in der Notaufnahme enden. Doch wie heißt es so schön im Chirurgen-Jargon? „Ist der Kittel abends weiß, zeugt das nicht von großem Fleiß“.
Noch ist das gleichfarbige T-Shirt des Doctor Pichelstein frisch am Weiher gewaschen, noch trägt Doctor Makarios reinstes hasardeurschwarz. Pratajevs Zigarettengedichte stehen hoch im Kurs. „Der Frau mit dem Buckel beißen die Dackel in die Nase“ wurde eben erst in Grodno, in Weißrussland, entdeckt. Gar nicht langsam füllt sich die Gaststätte. In-Leute und Out-People ergänzen sich zu einer wunderbaren Melange. „Tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, sagen sie sich. Ganz im Sinne des großen Dichters. Und weiter: „Heute ist das Leben eine Kraft aus Gelbfroschwasserquelle und Erleuchtung, also schön“. Wie gut, dass die Bühne schon steht und man sich unter den Scheinwerfern ein Bild davon machen kann.

Auch in diesem Jahr weilen weitgereiste Gäste dem Krause-Geschehen bei. Vertreter Wismars, Berlins, Magdeburgs - um nur einige zu nennen. Doktor C.S, gerade aus Köln angereist: Schnell den Koffer im Hauptbahnhof verstaut und nichts wie los. Klein-Žižkov kocht mittlerweile wie in roher Schinken. Immer mehr Holzlöffler-Familien ziehen ein. Die Damen tragen Nudeln, denn „1000 Nudeln durchbohren mein Herz“, bald schon wird es erklingen, dieses in Putschmittel eingelegte Störfeuer russischer Breitkochkunst. Pratajevs Erben gönnen sich auf Anraten des Tourmanagers noch ein Schnäpschen. Abschlagen sollte man ihm nichts, denn der Fürst Fedja genannte ist ein weiser Mann.
Schon tanzt sie, die kleine Heldenstadt. Ihre heutigen Bewohner lieben die Wirte und verehren jeden freiwilligen Seegang. Makarios walzt die Lebensumstände Pratajevs feinfühlig aus, erklärt, singt, gibt den Takt vor, trägt Anekdoten, Geschichten vor. Pichelstein lässt die Gitarre wie ein Toaster erglühen. Noch gibt es Lieder als zum Teil freundlichen Mix aus Sonne und Wolken, doch dann erinnert sich der Gitarrist ans Versprechen, heute mindestens einmal am Weltrekord kratzen zu wollen. Bereits während die Löffelfamilie zur Apokalypse ruft, narren ihn Adrenalinschübe. Ein ums andere Mal eilt er Makarios davon wie ein Punker dem Strebergarten. Im zweiten Break der „Harten Wirtin“ ist es schließlich so weit. Die Schallmauer wird durchbrochen, Fingernägel fliegen, das Plektrum landet im Becherovka-Glas. Ein Massaker. Blut auf der Gitarre, auf dem Shirt, überall. Makarios zählt die Anschläge pro Sekunde. Und wenig später ist Pause.

Der Plan lautet: sitzen, verschnaufen, dann frisch ausgeruht in die zweite Runde gehen. Doch während Dr. Makarios all dies beherzigen kann, strecken sich dem armen Pichelstein Gedecke voller Gelbschnaps entgegen. Im Sinne Pratajevs und Prumskis muss es heißen: Flucht nach vorn, austrinken. Schon stehen sie wieder auf der Bühne, die Doctoren. Erntedankfeste in der Frau Krause dulden nun mal kein bankrottes Ende. Und so spielen sie, die Doctors. So tanzen, fallen, stürzen und lachen sie, die Menschen vor der Bühne. Als gäbe es kein Morgen. Heilige von der Stange sind sie glücklicherweise wahrlich nicht. Bis Dr. Pichelstein zwar noch die Saiten trifft, sich jedoch aus einem nicht näher erklärbarem Grund in den Kopf setzt, ständig neue Liedversionen zu erfinden. Von der Ska-Version der „Toten Katzen im Wind“ bis zum „Schnapsbar-Reggae“ ist alles dabei. Dann muss es gut sein, mehr Zugaben werden es nicht. „Der Abend ist gelungen“ klappt am Ende nur noch als Wiener Walzer. Und wenn man es genau betrachtet: So dreht sich die Frau Krause wahrlich auch in ihrer ganzen Becherovka-Seligkeit. Ein Königreich dem, der das Taxi erfand.
