Der Kongress tanzt die wilde 13 (287)


Stallburschen, Künstler salutieren vor Dorfschönheiten. Blaue Himmelsfenster, saftiges Grün auf den Feldern, kräftiges Gelb in den Blättern. Herbst ist es schon im Altenburger Land, an einem Ort, der heute Miloproschenskoje heißen darf. Welche Ehre. Die Sonne bricht kräftige Strahlen am Russenpanzer. Ein Panzer, der eigentlich ein Traktor ist. Hat wohl die Ernte eben eingefahren. Gastvater Nikolaj Plautski saß, so die Rede, allerdings nicht am Steuer und ganz Miloproschenskoje, der Quellenhof zu Garbisdorf, Mittelpunkt des heute stattfindenden XIII. Pratajev-Kongresses, atmet hörbar auf.

 

 

Das Vorbereitungskomitee tagt am späten Nachmittag. Alles soll bald gerichtet sein zu Ehren unseres großen Dichters. Schon werden Kaffeebecher gereicht, wird der Natur gehuldigt. All den Kühen, Tomaten, Fröschen, Libellen, Bienenstichen, Spatzen, Schafen. Um Pratajevs Segen wird rasch gebeten, dann hält keine Ode ans Idyll mehr die Runde auf. Fürst Fedja, den Doctoren Makarios und Pichelstein wird der Bühnenaufbau übertragen. Manjoschka Gnatz, Wächterin der Münzen, arbeitet hart am Abakus. Zwischendurch folgen Holunderschnapseindrücke. Wenn auch nicht gegen den Durst. Gastvater Nikolaj Plautski schürt ein zweites Feuer, damit die ab 21:30 Uhr locker terminierte Versteigerung einiger sehr berühmter Werke aus Pratajevs Malerphase zur heiß umrahmten Auktion gebracht werden können.

 

 

Die Berliner Forschergranden Winogradow und Eademakow feilen unterdessen an früher wie später programmierten Kongress-Vorträgen beim anleitungsfreien Zeltaufbau, angefeuert vom Genossen Ktonibutjew. Der Kulturbeitrag Beringsee komplettiert mit dem wenig später am Firmament auftauchenden Shiva das Die Art-Stelldichein. Ein frohes Wiedersehen und schön ist’s wieder mal alle beieinander zu sein. Weitere Forscher der Haus aus Stein-Buchreihe geben sich die Klinke in die Hand. Brotnowaljow Numski Guinnessoff saugt an Zigarren und noch handwarmem Gelbschnaps zugleich, Inge A. Polenz versprüht Charme und Esprit. Boris Brutalowitsch sichert sich bereits beste Plätze für heimliche Giftschrank-Mitschnitte. Schwarzbrenner Gurt Kaktus umgarnt die Bühnendekoration mit nordelbischen Feldfrüchten, immer ein Fläschchen Trovlower Busfahrerschnaps für den neugierig Dürstenden dabei. Erste Taxis erreichen das muntere Sujet; ans Tageslicht gelangen reichlich ausgezehrt und nahezu verhungert die Frankenländler Danuta und Bruno Molotova. Erfreulicherweise in adretter Begleitung der Iwana Iwanovitsch Artimowitsch, angereist aus der goldenen Stadt Prag. Nur gut, dass es Fettbemmen, dass es Soljanka nach Art Pratajevs gibt. Mit Katze oder ohne, das soll ein Geheimnis bleiben.

 

Begrüßt wird die Pratajev-Fraktion Karl-Marx-Stadt, werden Dorfbewohner, Karussellkinder und all jene, die den Kongressabend mit Leben und Leber füllen. In letzter Klausur befinden sich nur noch Doctor Pichelstein und Gastsängerin Frau Doctor Franziska. Pratajevs Weisen, oder auch Hits „Schleim am Arm“ und „Auch die Ratte hat ein Herz“ werden geprobt für ein Special ganz besonderer Noten, denn Frau Doctor Franziska vermag sehr schön und klassisch zu singen.

 

 

20:05 Uhr schlägt die Stunde, „kurz nach Um“, wie der Sachse sagt. Die Eröffnung des XIII. Pratajev-Kongresses wird durch den Ehrenvorsitzenden Doctor Makarios begangen. Bestuhlte Reihen blicken gebannt, an der Schnapsbar ist dennoch (und so muss es sein) die Hölle los. Fürst Fedja jubiliert: Endlich ist er kalt, der Gelbe Schnaps aus Karlsbad. Doctor Pichelsteins Gaumen nimmt es mit wohligem Schauer zur Kenntnis. The Russian Doctors folgen mit einer kleinen musikalischen Bresche. Eademakow berichtet live und in Farbe von einer neuerlichen Forschungsepistel unseres großen Dichters. Die Geschichte, wie es Pratajev einst aufs berühmte Foto der Alliierten am Torgauer Brückenkopf geschafft haben soll, gibt es im nächsten Haus aus Stein zu lesen. Doch das erscheint, an dieser Stelle sei es erwähnt, nicht wie gewohnt im Februar 2014, sondern später. Das liegt einfach mal daran, dass Herausgeber 1 (Pichelstein) fast durchweg zuletzt sechs Monate am Schreibtisch verbrachte, um einen knapp 400 Seiten dicken Buchwälzer namens „Eishockey in Deutschland – Nichts für schwache Nerven“ zu kreieren und entsprechend schreiblädiert ist. Herausgeber 2 (Makarios) steckt in den Abschlussarbeiten zu „Pratajev IV“, welches tatsächlich 2014 erscheinen wird.

 

 

Ab 20:50 Uhr, der Sachse spricht jetzt von: „zehn vor Um“, kennt der Saal kein Halten mehr. „The Russian Doctors Classics - feat. Frau Doctor Franzsika“ feiern Premiere, Pichelstein erzählt danach von Pratajevs Psychiater Schizophrenow, den Aufzeichnungen seines Sohnes, einen stummen Vorwurf an eine Kreisstadt im Mittleren Ural namens Bolwerkow nicht verhehlend. „Raus an die Schnapsbar“ heißt es hernach. Von den Inhalten wird reichlich Gebrauch gemacht. Und so verwundert es kaum, dass innerhalb der von Nikolaj Plautski hervorragend inszenierten Pratajev-Auktion die Wogen überschäumen, die Werke des großen Meisters Höchstpreise erzielen. Manjoschka Gnatz gelingt es gerade noch das Werk „Messer mit Möhre“ für das Büro der Leipziger Pratajev-Zentrale zu ersteigern. Bierflaschen mit grüner Leiter auf gelbem Grund prosten sich durchs Gewimmel.

 

 

Beringsee spielen kurz danach zur besten Daseinsfreude auf und von hier an schwinden die Erinnerungen des Tagebucherzählers. Er weiß noch, dass die feuchtfröhliche, von knallenden Krimsektkorken begleitete Übergabe der diesjährigen Kongress-Pokale „Held der Arbeit“ (an Nikolaj Plautski) und „Der Wanderer“ Jauchzen und Staunen mit sich brachten. Dass die Übergabe des letztgenannten Forscherpokals (Gurt Kaktus an Winogradow) alle Ketten sprengen ließ, die bezaubernde Moderatorin Manjoschka Gnatz Mühe hatte, die Auszeichnung der „Schönsten Pelzzunge“ zur Prämierung auszurufen. Denn der dafür vorgesehene Zweitpreisling Brotnowaljow Numski Guinnessoff schlief bereit den Schlaf des gerechten Wirtes. Als 1. Sieger in der kunstbeflissenen Werkedisziplin wurde Pratajev-Mitglied vito (Erfurt) ausgerufen. Und als sich die Tumulte wieder legten, sang Winogradow poetisch-samtene Schwarzmeer-Verzauberungen zur Gitarre, bevor ein Wirbelsturm an letzten Pratajev-Weisen der Herren Makarios und Pichelstein den Kongressdeckel in früher Morgenstunde schlossen.

 

An dieser Stelle gemahnen die Erinnerungen des Tagebucherzählers völlig zu entschwinden. Nicht ohne ein deftiges Allen-sei-Dank, vor allem gen Gastvater Plautski nebst umsorgender Quellenhof-Entourage, zu richten, bevor die Geschicke des nächsten Tages für immer verschwiegen werden. Denn jedem Tag Eins nach einem gelungenen Pratajev-Kongress wie diesem, kann nur zugerufen werden: Heute geschlossen wegen gestern.

 

 

 

Hinten Stiefel, vorne Sneakers (286)


Was für ein Aufruhr gleich zu Beginn des 2. Dresdentages. Der Pratajev-Tross, in letzter Frühstückskonsequenz noch am Buffet des TU-Gästehauses gelandet, hat schwer unter der Herbergsmutter zu leiden. Doctor Pichelstein rutschen gar Halbsätze wie: „DDR-Brauchtum in Sachen Dienstleistungsfreude“ über die Lippen. Aber nun, was hilft es? Brav werden Anmeldeformulare nach-ausgefüllt. Jede Frage nach einem neuerlichen Tässchen Kaffee, jede Apologie darunter vermieden und das Wehklagen der barschen Mutter („Jetzt muss ich diese ganzen Sachen noch in den Computer eintippen“) gebückt zur Kenntnis genommen. Nichts wie weg hier, in den Regen, ins Taxi. Das rief die Putzfrau und die hatte das Herz auf dem richtigen Fleck. Ein Lob an dieser Stelle an die, wie man so schön sagt: Gute Seele des Hauses.

 

 

Auf dem Parkplatz des Lingnerschlosses angekommen sieht Fürst Fedja derweil alle Felle davon schwimmen. Ein einziger sich noch in vermeintlichem Besitz befindlicher Autoschlüssel wird gesucht. Taschen dabei aufgerissen, Schweiß vergossen, das Mütchen darunter bereits an sich selbst gekühlt, taucht der Schlüssel plötzlich wieder auf. Fundort: rechte Lederjackentasche, ganz oben, dort, wo sonst nur kalte Zigarrenstummel schlafen. Noch einmal Glück gehabt. Auf geht’s zur großen Schlösserfahrt mit dem Elbedampfer. „August der Starke“ wartet bereits. Die Tickets gelöst, verbotenes Spatzenvolk beim Spiel mit Senf und Bratwurst gefüttert. Nichts wie aufs Oberdeck, zu Graulocken, einer Schulklasse aus Kärnten und natürlich einer Rotte biertrinkender Ergo-Versicherungsreisender, die lange schon nicht mehr nach Budapest in den Puff dürfen. Oder ist das hier einer? „August der Starke“? Man will es gar nicht wissen. „Leinen los“, ruft der Minijobber am Steg. Zeitgleich legt der Salon-Schiffs-DJ eine Kassette ein. So erfahren die Flussfreunde aus erster Hand, was sich hinter den feilgebotenen Panoramablicken geschichtliches verbirgt. Und zwar auf Deutsch und einer Art Telefon-Sex-Englisch Marke Volkshochschule für Fortgerittene (O-Ton: „August the strunk“). Nur, dass Gräfin Cosel eine „bitch“ war, bleibt leider Gottes unerwähnt. Hin und zurück, Elbe runter und Elbe rauf. Viel gibt es zu schauen. Am linken Rand etwa „August den Schwachen“, mit letzter Kraft den Hosenstall öffnend. Dann lässt er es fließen und Mutti ist 300 Meter voraus, passiert einen einsamen Angler, der gerade mit depressiv-mürrischem Gesicht einem kleinen Fischlein am Haken die Freiheit schenkt. Fürst Fedja tauft ihn "Nemo".

 

 

Am späteren Nachmittag parkt der randvolle BMW bereits am heutigen Spielort, der Alten Feuerwache. Ein Fluthilfe-Benefizkonzert steht auf dem Programm. Das spielt sich sehr gut, wenn die Bäuche vollgeschlagen sind. So beginnt sie, die Suche nach einem Lokal, einem Freisitz, einem Restaurant, einer geöffneten Bäckerei und draußen gibt’s nur Kännchen. Mit jedem Meter schwinden die Ansprüche. Außerhalb des Elbhangfestes scheint hier wirklich tote Hose zu sein. Das einzig geöffnete „Kaffee Wippler“ am Körnerplatz sieht von draußen betrachtet so aus, als wären mindestens zwei touristisch angehauchte Busladungen darin. Auf der Suche nach dem heiligen Autobahngral, sprich: dem Klo. Also weiter, immer weiter. In Elbenähe keimt Hoffnung. „Freisitz geöffnet ab 15 Uhr“ steht hier und dort in subversiver Publikumsverhöhnung. Es hat wohl wer vergessen, die Schilder abzumontieren. So wird geraucht und auch ein wenig geflucht. Bis in letzter Konsequenz im „Wippler“ ein winziger Tisch frei wird. Ein winziger Tisch, auf dem sehr bald zuvorderst riesige Kaffeekübel, allerdings ohne greifbare Henkel am Rumpf Platz finden. So sieht sie aus, die Kunst beim Mäusemelken. Und weil es unisono von der Maus bis zur Katze nur ein kurzer Sprung ist: An den Laternen werden nicht nur passiv-aggressiv dreinschauende Politiker dem Wahlvolk präsentiert. Nein, per Steckbrief wird gar nach einem Kater gesucht. „Hinten Stiefel, vorne Sneakers“, so steht es auf dem Papier, daran mag er wohl zu erkennen sein, der gestiefelte Sneakers-Kater. Ein Sammelstück, rasch eingesteckt. Denn Doctoren sammeln solche Kopien und das ist eine Tugend.

 

 

Glücklicherweise bietet die Feuerwachen-Entourage leckere Brötchenhälften feil. Der Regen verzieht sich langsam, muss er auch, denn heute wird Open Air gespielt. Ganz schön gewagt, aber nun, anders geht es nicht. Unter ersten Bechern Tannenzäpfle lassen sich die Doctoren die Nach-Hochwasserlage an der Alten Feuerwache erklären. Hört sich beileibe nicht sehr gut an, doch es wird zu schaffen sein. Wir wollen es hoffen. Böse Elbe, mach das nie wieder! Ja und dann fallen die Pullover, wird die Bühne mit Gerätschafen, Sangesfreuden und Gitarrenklängen bestückt, kann es eigentlich bald losgehen, doch das Publikum ziert sich noch und denkt heute dreimal drüber nach, an den nasskalten Elbhang zu gelangen.

 

Dann trudeln sie alle auf einmal ein, die Dreifachdenker, die lieben Menschen aus Pirna, Dresden, Leipzig und Umgebung. Hinten Stiefel, vorne Sneakers. Das Konzert startet mit voller Wucht, selbst sehr jungen Ärztinnen ist jetzt nach einem Weingelage. Angehende Bildungshungrige verorten das Gedeihen und Verderben von Mangos und Bananen jetzt auch nach Berlin. Der Vodka kreist, rund um den Merchstand trifft sich das Gelage und als der letzte Ton, die letzte Schnapsbar im Pogotanz verklungen ist, dürfen auch die Doctoren Makarios und Pichelstein pausieren bis Schlag Mitternacht, bis die Schnapsbar schließt. Gerne hätte man noch in den Körnerstuben weiter getrunken, doch der Elbhang ist, wie er ist, so ohne Elbhangfest. Doch wen schert das, rauf in die Kammern, wo ein letztes Getränkelein das Abenteuer Dresden für heute beschließt.

 

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