Als das Publikum die Doctors mal nicht nur mit Schnaps rettete,

hinterher aber doch alle betrunken waren (223)


Wo liegt Velten? Ganz einfach. Richtung Berlin fahren, dann brandenburgisch abbiegen und schon herzt sich die ehedem berühmte Ofenkeramikstadt ins ausflugshungrige Navigationssystem gen Tonstraße, nebst passender Museumslandschaft, ein. Zwanzig Tage vor den Russian Doctors fand das letzte Konzert in Velten statt; die unverwüstlichen Puhdys gastierten „Am Katersteig“. Nicht „Am Katzensteig“ wohlgemerkt. „Wer die Puhdys-Konzerte kennt, weiß um ihre Gewaltigkeit – hier gibt es immer Rock ungeschminkt“, verrät dann auch ein kleiner Flyer oder Freier. Jedenfalls von irgendwo her scheint diese Information zu kommen. Ist ja auch nicht so wichtig, der Bundeskanzlerin schon lange nicht. Und so regiert die „Diktatur der Deppen“, wie die Financial Times neuerlich treffend titelt, puppenlustig ohne Doktortitel weiter. Pratajevs Erben ficht das nicht an; denn echte Doktoren, echte Veterinäre stammen meistens aus Murmansk und dort erwirbt man seinen Titel erst nach der 314. Kuhgeburt in Steißlage.

 

 

Mic’s Pizza, Mic’s Bar, das Veltener Gasthaus leuchten hell in den bitterkalten Abend hinein, als das Tourauto sein Ziel erreicht. In der Bar soll gespielt werden, Doktoren-Freund Steffen grüßt mit dem Freitagspils in der Hand, lange nicht gesehen, seit August letzten Jahres nicht, beim legendären Biker-Konzert in Oranienburg. Seinerzeit ebenfalls anwesend: Eine Anlage zur Beschallung des Publikums, denn die scheint im vorbereitenden Informationsfluss irgendwie untergegangen zu sein. Doch Velten wäre nicht Velten und Steffen wäre nicht Steffen, diesen Sender-Empfänger-Defekt alsbald reparieren zu wollen. Handys glühen, ratlose Zigaretten folgen frohgemuten, erst mal ein Stehaufbier, dann eine Sitzpizza, rüber in den Gasthauskeller. Aber nichts passt zunächst zusammen. Dann geht der Samariter Nummer 1 ans Telefon, ein DJ an seinem freien Abend. Doktor Makarios verhandelt den Anlagenpreis, DJ fährt vor. Und nochmal weg, mehr Equipment braucht die Not, denn selten werden akustische Gitarren in Kopfhörereingänge gehörig eingestöpselt. Der Preis steigt, der erste Becherovka schmeckt wohlverdient. Der verehrte Baumfreund Ekmel spendet eine Flaschenpost Holunderschnaps in Memoriam Bergsdorf 2010. Herrlichen Dank dafür! Vater Baumfreund wird freudig begrüßt, auch Bermasik Junior, Holzlöffelschnitzer der Pratajev-Gesellschaft, ist mit dabei. Ach und wer noch alles! Selbst Achselshirt-Fetischisten sind darunter. Sehenden Auges verbessert sich die spätere Livesituation der Doctors. DJ und Doktor Pichelstein schrauben, verklinken was das Zeug hält. Letztlich strömt der Gitarrensound aus einer Monitorbox, die mit passender Übertragungswelle ans Pult gekoppelt wird. Kurzer Soundcheck, Sennheiser-Mikros toppen die mitgebrachten SM 58er. Egal warum auch was geschieht: es klappt und mit welch großer Erleichterung die nächsten Kaltgetränke geschüttet werden, vermag sich jeder vorstellen. Und mit fast ebenbürtiger Erleichterung sammelt tatsächlich das Publikum (verneig, verneig) den Aufpreis für den Anlagenbau zusammen. Weihnachten fällt heute auf Ostern in Velten und alle haben jahrelange frei. Wenn nur nicht der Merchstand ein weiteres Mal umziehen müsste, doch selbst das koffert sich lächelnd wie von selbst.

 

 

Im Raucherzimmer von Mic’s Bar wird Geburtstag gefeiert. Ein Kontrastprogramm zum mittlerweile aufbrandenden Doctors-Konzert. Die juvenilen Damen tragen Hackschuhe und entsprechen – nicht nur in Mimik und Gestik - dem landläufigen Sprachgebrauch so genannter „Ischen“. Die Peergroup der Männer könnte einem aufklärerischen Werbespot der Gorch Fock entsprungen sein. „Wehe dem, der meine Ische anguckt“, steht es ihnen in den Gesichtern geschrieben. Doch wir wollen das alles gar nicht ab- oder bewerten, sondern lieber auf Pratajevs Gedichte „Junge Burschen tanzen“ und natürlich „Der Raucher von Bolwerkow“ verweisen.

 

Das Verhältnis Lied zu Schnaps dürfte mittlerweile bei 2 zu 1 stehen. Mitte des ersten Sets fordert Doktor Makarios vom Gitarrendoktor eine entsprechende Dopingprobe ein. „Mein Doktor, die Gitarre geht mit mir durch“, ruft Pichelstein flehentlich und bekommt Pfefferminzleckerli eingeflößt. Das Publikum geriert sich textsicher, auch hier fließen die Pinnchen, auch hier steigt der Geist Pratajevs aus allen verfügbaren Flaschen bis zum Pausentee. Doch selbst der ist ein Metaxa. Um nicht zu sterben, wie einst in Chemnitz oder nach dem 200. Konzert im Leipziger Flowerpower, wird Pichelstein nach der Pause auf Schnapsdiät gesetzt. Doch die Endorphine haben längst alle Überhand gewonnen, drum Prost und Danke und alle lieben Grüßen dieser Welt. Auch dem „Beim Bücken von hinten Zuseher“, Pratajev-Neumitglied Nummer 53 in seiner Funktion als „Kuhflüsterer“.

 

Sehr spät lassen sich die Holztreppen im Veltener Gasthaus auf der anderen Seite des Kreisverkehres erklimmen. Sehr erschöpft sitzt man da und grinst.

Kichererbsen bis Chemnitz (219)


Europark, Zimmer 16, große Pension am Stadtpark im Herzen des zentrumsnahen Stadtteils Altchemnitz. Öffentliche Verkehrsmittel (Straßenbahnen ohne Fahrgast-TV. Unvorstellbar! Wo soll man denn hingucken?), Einkaufszentrum (war’s ein Penny oder Diska?), Sportzentrum (für Integrationsstreber, ohne Worte) und Gaststätten (altbacken) vor der Tür. Anreise rund um die Uhr möglich (Radeberger, warm, bitte sehr). Die Zimmer sind freundlich (ausstaffiert mit Fernseher, Decken, an denen man sich nicht aufhängen kann, weil kein Seil der Welt derart lang ist, Bett, Tisch und 2 Stühle) eingerichtet und werden gern von Geschäftsreisenden (Autotransfer gen Ost?), Firmen (Blumenhandel „Wollen Rose“) und auch Privatleuten (Mittagspause mit der Klofrau aus Minsk) genutzt. Die Sanitärräumlichkeiten befinden sich in Zimmernähe (kommt irgendwie auf die Lage des Zimmers an)… Ja, aber bis dorthin, irgendwann ab nächtlicher Kreuzung zweier unmittelbarer Tage, ist es noch sehr lange hin. Europark, welch edler Name – wer da lediglich an Paris in Frankreich denkt, sollte wissen, dass in Altchemnitz alles eher an Minsk in Weißrussland gemahnt. Minsk liegt eben auch in Europa.

 

Lange Stunden zuvor, am Zernsdorfer Mittag des Tages, füttert Doktor Pichelstein die possierlichen Käfigratten im Haus am See („Doktor Pichelstein füttert die Ratten im Haus am See“ würde eher seltsam klingen). Es plagt ihn dabei ein kleines, schlechtes Gewissen. Materialermüdung führte nämlich eben erst zum Zusammensturz des Duschvorhanges. Könnte man meinen. Andererseits ging der Gitarrendoktor gewiss nicht filigran ans Werk. Ein leckeres Mittagsmahl folgt dem Frühstück und Kalfs Kichererbsen darin werden beiden Doktoren noch lange in olfaktorischer Erinnerung bleiben. Erst bei Ankunft im Chemnitzer Jugendclub „Arthur e.V.“ lassen die kleinen Bösewichte von Makarios und Pichelstein ab - die sich späterhin erleichtert, schadlos mühen, alles Kofferverpackte galant aus dem Autostauraum zu hiefen.

 

Über ein größeres Permafrost-Eishockeyfeld geht’s damit hinein in den Club. Schön warm hier, feine Menschen, und Holm, der Solche, kommt nicht. Brach sich gehend den Fuß und liegt daheim. Fein wär‘ die Nacht bei ihm gewesen, doch nein, es sollte nicht sein. Moderieren wird den Abend nun ein Unifreund. Eigentlich sollte es auch Radio geben, eine Liveschalte, doch es sind eben oder bestimmt Studenten, die hinter so etwas stecken. Man will es ihnen nachsehen, beim nächsten Mal klappt’s bestimmt mit allem, was die Welt so bietet. Ähnliches vermag dito der Arthur-Verantwortliche denken, nur was lässt ihn zweifeln, dass es heute Abend voll wird? „Na ja, sonntags kommen nicht so viele. Deshalb auch nur 3 € Eintritt…“ Von wegen. Nicht mit den Doctors, nicht hier, in Chemnitz.

 

 

Als hätte es einen ominösen Pratajev-Gruftruf gegeben: Binnen weniger Viertelstunden platzt der Club aus allen Nähten. Man kommt nicht vor, nicht zurück. Und das ist Grund, warum Doktoren so gerne am Rande des Erzgebirges, in Chemnitz, spielen. Dem Abend, der Nacht wird Balsam gereicht. Die Fliehenden-Sturmfreunde sind da, Vertreterinnen der Pratajev-Sektion Frankenberg, das halbe Subway-to-Peter feat. Godfather-DJ Herr B. aus C. wird gemutmaßt uvm. Ach, herrlich. Schnell noch Flüssigkeit in den Orkus kippen, dann geht’s mit dem Intro auf die Bühne. Es folgt rasch das „Loblied der Miloproschenskojer Wirtsleute“ – etwas durcheinander geraten, aber beide Doktoren nehmen sich vor, den mitleidigen Text des Pratajev-Wirtes Brantweijn in Zukunft bei allen nachfolgenden Konzerten weiterhin live zu proben. Dann gibt’s das Interview; viele Fragen werden zu Gehör beantwortet und lassen noch viel mehr Fragen im Raum stehen. Macht nichts. Weiter im Set, in der Pratajev-Geschichte. Irritiert blickt lediglich das (vorwiegend weibliche) Arthur-Stammpublikum. Eine Pause soll’s nicht geben, weil morgen Montag ist. Der Tag der Einkehr in die neue Woche, als schlimme Kichererbse unter den Wochentagen ist er verschrien. Und das mir Fug und Recht. Ja, so geht’s lang und heiter weiter; ein bühnendargereichtes Terpentingetränk reinigt den Magen endgültig. Bis die letzte Zugabe verklungen ist und sich die ersten Menschen im Raum das neue Haus aus Stein Nummer 5 glücklich ans Revers heften.

 

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