tour_tagebuch
Welch gute, perfekte Idee einen so genannten „Off-Day“ gehabt zu haben, ein paar Stunden Heimatliederruhe. Gute Gelegenheit sich der Erschöpfung hinzugeben, Wäsche nebst Tourgefährt zu wechseln, Medizintasche komplettieren. Auf Anraten seines Sängerdoktors huscht Pichelstein rasch noch auf eine Tube Traumeel (Werbeslogan: „Wenn Sie es übertrieben haben“) in die nächst beste Apotheke. Und tatsächlich: Belladonna rettet des Doctors Gitarrenarm in sanfter Nachhaltigkeit.
Die A17 Richtung Prag ist kein Ort zum Verweilen. Bevor sich Radio Antenne Sachsen endgültig, dem Tunnelfunk weichend, aus dem Äther verabschiedet, bettelt der Puhdys-Sänger um Liebe und krakeelt sein Ansinnen mächtig heraus. An letzter Offerte wird eine Vignette erworben und fachmännisch ans Auto geklebt. Zwischen deutscher und rein tschechischer Autobahn hat sich nicht viel geändert. Auf geht’s mittenmang wie immer durch grüne Landgefilde, kleine Städte, eingeklemmt in mäandernden LKW-Wänden. Stürmisch ist’s - auf geht’s nach Prag und genauer zunächst einmal ins Botel Racek, nach Praha 4. Im Schritttempo befolgt Doktor Pichelstein korrekte Anweisungen des Navigators Makarios; ohne Umschweife (gut, den ein oder anderen Luderstau an diversen Ampelanlagen gilt es zu überstehen) wird’s Moldauschiff erreicht. Einchecken, Kajüten besiedeln – das erste Pilsener auf dem Sonnendeck, welches seiner Bestimmung glorreiche Ehre verschafft, wird vom Kellnerzauselmann prompt geliefert. Die Sonne neigt sich dem Scheingewahr zu; duselige, schwermütige Augenblicke später sitzen beide Doktoren samt Gepäck bereits im Taxi nach Žižkov, Praha 3, in die P?íb?nická 8/977. Es wartet: Der Klub Final.
Phil Shoenfelt wurde bereits auf dem Weg dorthin gesichtet. Da ist die Freude groß, schließlich sah man sich zuletzt beim ersten Goldeck-Zusammenspiel im Leipziger Flowerpower Anfang des Jahres und bei den anschließenden Feierlichkeiten von 25 Jahre Die Art im UT Connewitz. Im Final hockt vor einer Naschschale Peperoni bereits der Tourverantwortliche Jarda Švec in mittlerweile erweiterter Funktion als „producent, zvuka?, um?lec, šaman“. Kaum sitzt man nach feierlichen Brüderlichkeiten, kreist der erste Joint, doch nein, nicht für die Doktoren. Genügsam schlürft sich’s Pivo, schmeckt der Becherovka wie er eben schmeckt.
Wann heute genau und vor allem bis wann gespielt werden soll, ist nicht heraus zu bekommen; zunächst wird‘s im Oka Pub tschechisches Gulasch geben. „Nicht weit, normaaaal“, ruft Jarda recht euphorisch. Alles andere tritt selbstredend ein und nach dem Club-Wiederabstieg staunen Makarios und Pichelstein nicht schlecht. Die Pirna-Fraktion! Boris Brutalowitsch nebst Sohn und Silvia (wird man gleich mit Geschenken bedacht: Fotos und das Hörbuch zum Pratajev-Fest 2011 als dicke CDR-Box, vielen Dank!), die Nürnberg-Delegation! Azalea So Sweet! Alle so rein zufällig in der Gegend und allen geht’s prima. Was will man mehr? Genau, einen tadellosen Soundcheck, hernach ein langes, lautes, trunkenes Pratajev-Konzert mit abschließend ausreichend tschechischen Kronen in der Hosentasche. Aber - wir sind in Žižkov, Praha 3, auch nicht im Oka Pub oder auf dem Paruká?ka. Das liegt dankbarer Weise alles noch vor einem – und so ist es am Ende auch egal, was im Final klappt und was nicht. Immerhin funktioniert der DVD-Player an der Bar: Phil Shoenfelt as Charles Cockburn, BBC London, for Culture of the sheep: Pratajev in Prague. Phil, genau, ein bisschen Historie muss sein: Im Interview liest sich das so: “Phil gefiel die inspirierende und kreative Atmosphäre Prags so sehr, dass er im August 1995 permanent dort hinzog. Zusammen mit seiner neuen tschechischen Band Southern Cross nahm er 1997 das Album Blue Highway auf (…)“
Wie wahr. Und je inspirierter, nebulöser Jarda mit seinen tschechischen Technikfreunden kreativ über den verkrusteten Knöpfen der heute feilgebotenen, prähistorischen Anlage zur Beschallung des Publikums brütet, desto öfter fällt sie in jedem Song für Bruchteile komplett aus. The Russian Doctors spielen tapfer weiter; dem Publikum, mit deutlich deutschem Übergewicht, scheint’s trotzdem an nichts zu mangeln. Es wird ein eher kurzes Konzert, Umarmungen folgen bei Ende und die Nacht zum Mittwoch, auf dem Oka-Freisitz, bringt’s wahre Final. Doktor Makarios gelingt es gar zu später Stunde noch aus der bereits geschlossenen Küche drei Portionen Gulasch zu erhaschen. Es fließt das Pivo, es kleckern die Schnäpse. Keine Frage: man ist in Prag und die folgenden Konzerttage werden es noch mächtig in sich haben.
Fotos: 2-3 Ulrike Gömmel
40 Jahre HO (240)
Auf geht’s heute, am Vortag germanischer Einheit, nach Oelsnitz, ins Erzgebirgsbecken, wie es richtig heißen soll, eben weil man als Nichtsoganz-Erzgbirger aus diffusen Gründen stets leichte Trümpfe in der Hand zu haben scheint. Wie sonst käme etwa ein Wikipedia-Nerd auf folgenden Inhaltsstoff: (…) Der Zusatz Oelsnitz „im Erzgebirge“ wurde 1883 erstmals von der Post genutzt, um Verwechslungen mit der Stadt Oelsnitz im Vogtland zu vermeiden. Allerdings ist dieser geographisch falsch, da Oelsnitz im Erzgebirgsbecken liegt. Treffender und korrekt wäre „Oelsnitz am Erzgebirge“. Verdammt, warum will bloß niemand freiwillig AUS dem Erzgebirge kommen? Zumal: „Becken“ ist doch drinnen, mitgehangen, mitgefangen. These: Wenn kaum jemand sich des urigen Gebirges freiwillig zugehörig fühlen möchte, obwohl bereits Wiege, Schnuller und Kinderwagen handgeschnitzt waren, vom Opa, der immerzu das Steigerlied beim Schnapse und auf der Oma sang, dann kann doch irgendwas nicht stimmen. Im letzten Jahr spielten die Russian Doctors tief drinnen, in Eibenstock, immerhin ihr bisweilen höchstes Konzert. Auf einer Skihütte, 700 Meter über dem Meeresspiegel und die Menschen dort wirkten ganz normal. Gut, Sprache und Ausdruck waren vor allem für Doktor Pichelstein nicht leicht zu verstehen, aber: alles in allem war’s ein rauschendes Fest da droben auf dem Berg.
Herumgesprochen hat sich bisweilen, dass man mit abgekupferten, bayerischen Traditionen, vor allem in der Grenzregion Brandenburg/Sachsen, jeden noch so starren Wendeverlierer vom Fenstersims oder Sofa wegzulocken vermag. So trägt es sich heute etwa zu, dass nicht nur überall Oktoberfest ist, nein, auch Almabtrieb wird begangen. Während so ein Szenario im Allgäu sicherlich hohe Wellen (wegen: hoher Berge) schlägt, reiben sich die fahrenden Makarios und Pichelstein doch sehr die müden Augen, als im Landkreis Elbe-Elster, nahe der gerühmten Sängerstadt Finsterwalde, Kuh um Kuh einen Waldhügel herunter getrieben wird. Man hat sogar Weideland im tiefen Tal zu Parkplätzen umfunktioniert und ab geht die Graulockenpost bei Schweinehaxen und Bier in Maßen. Nun denn, weiter geht’s Richtung Oelsnitz; erste, überlebensgroße Schnitzfiguren am Tankstellenrand zeugen von der Richtigkeit des Weges.
Auf dem Gelände des Bergbaumuseums weisen interessante Hinweisschilder aus bemalter Pappe, Aufschrift: „40 Jahre HO“, beiden Doktoren den Weg. Hendrik und Olaf hatten Geburtstag, „40 Jahr‘, volles Haar, so standen sie an der Schnapsbar“, hätte Pratajev gewiss heute zum Besten gedeutet. Doch da Pratajev bekanntlich längst verstorben ist, werden The Russian Doctors den großen Landdichter heute würdig vertreten. Zwar wuchs das Weichteilvolumen von Doktor Pichelsteins Gitarrenschlagarm nach den Konzerten der letzten Tage und vor Wochenfrist bedenklich an, aber: es wird später Medizin geben, heilende Salbe, Voltaren nämlich - froh ist man, dass solch ein Schleim nur von außen in die Haut einzudringen vermag. Und nicht andersherum.
„40 Jahre HO“ sind/ist bereits früh am Abend rundum organisiert; der historische Festsaal des Bergbaumuseums sieht sich beladen mit Leckereien am Büffet, mit Trinkereien in allen Ecken und tata: Eine echte russische Schnapsbar zimmerte man und trug allerlei Gebranntes und Gegorenes auf ihr zusammen. Das kann ja heiter werden, zumal die Doktoren Programmpunkt 4 oder gar 5 sind, was einem ersten Set ab 23 Uhr zumeist in die bereits durstgelöschteren Karten spielt. Bereits Pratajevs Gitarrist Anatoli Prumksi wusste: „Ein Konzert spielt sich nicht allein, vorher muss jede Menge Schnaps hinein“. Ausgeladen wird der Tourbus, die Bühne, dekoriert im GDR-Jugendstil, erweist sich als feinste Kulturempore.
Draußen ist weiterhin Sommer im Herbst; schiedlich friedlich raucht es sich hier am besten. Die Gäste erreichen ihr Ziel in Scharen, Autos leeren sich; bald schon sitzt der Saal unterm 1939 verzierten Eichengebälk an der Decke. Was da genau eingeschnitzt steht, wollen wir mal lieber nicht wiedergeben. Irgendwie geht es um Bergmänner, die lustig bis natürlich unheimlich tapfer ihrem schweren Tagewerk nachgehen. Dann eröffnen Hendrik und Olaf die Party. Doktoren loben kauend und triefend all die Speisen, die leckeren Happen und auch Kuchen und Suppen. Kabarett kündigt sich an; ein Mann spielt dazu Gitarre, der Slang ist steigerisch-erdverwachsen, lustig kreischen die Runden, Kabarett verkleidet sich gerne, so auch heute. Applaus und Schmaus, eine rauchen gehen und Smalltalk wird zum Longtalk. Gewichtige Fragen des Lebens werden darin zumeist unbeantwortet bleiben, etwa diese: Warum Frauen immer „shoppen“ wollen und Männer eher gar nicht. Oder: Warum Frauen beim „Shoppen“ von ihren Männern Geleitschutz abverlangen, während diese später sehr mürrisch, bepackt mit Plastetüten voller Damenschuhe und Wäsche, in den entsprechenden Kaufhausabteilungen des Landes auf Hockern kauern - der Tag für sie damit gründlich verdorben scheint. Oder: Welchen Stellenwert die Präsenz einer Starbucks-Kaffeekette für eine Stadt feilzubieten vermag. Denn: Leipzig hat Starbucks, Chemnitz nicht. Unangenehme Folge für die Männer: Jetzt müssen sie zu allem Übel noch am verkaufsoffenen Wochenende von Chemnitz nach Leipzig fahren, ihren Frauen im übervollen, völlig überteuerten Heißgetränkeladen staubtrockene Muffins nebst Vanillekaffee organisieren, bevor es dann zu den Hockern ins Geschäftliche geht.
"Bei mir bist du schön" – so geht’s weiter im Programm. Das Duo „Roter Mohn“ (nicht verwechseln mit der gleichnamigen Band um den Skeptiker-Sänger) trägt vergessene Lieder, Tonfilmschlager und Evergreens vor. Holla! Der Kultursaal des Bergbaumuseums tobt; Doktor Pichelstein zieht’s zum Klatschtest wieder hinein. Voltaren macht’s möglich. Ältere Semester summen, jüngere schunkeln und ganz junge kreischen vergnügt. Höhepunkt: Hendrik wird samt Bass in die Anlage zur Beschallung des Publikums eingestöpselt. Eisbären müssen nie weinen… Und dann fällt der Vorhang zur Schnapsbar, The Russian Doctors beginnen mit Russen und Feldmännern. Doktor Pichelstein schraubt den Soundpegel gen Himmel, bzw. gen verzierter Schnitzdecke, und nach wenigem Liedgut ist der Saal, wie man so sagt, geknackt. Rostocker Freunde schwingen die Hüften; das Randerzgebirge, das Erzgebirgsbecken, ach immer doch: das gesamte, wohlfeine Erzgebirge tost und treibt Pratajevs Erben zur Höchstform. Schnaps um Schnaps erreicht die Kulturbühne - so geht das eine ganze, lange Weile, bis über die Zugabennische hinaus.
Weil für viele ein Doctors-Abend gänzlich neu ist, der allerletzte Wunschblock somit schwerlich bedient werden kann, ruft man eben: „Das Pferd“ oder „Der Wolf“ oder „Die Maus“ gen Makarios’ mikrofonischer Programmführung. Aber solche Texte oder Stücke hat Pratajev bisher nicht von sich blicken lassen. Und weil alles so unglaubliche Kreise zieht, hilft letztlich nur „Da hält der Wind den Atem an“ und „Der Abend ist gelungen“. Das passt sehr gut, bis in die späte Nacht, bis die Pension „Zum Brunnen“ (mit 4 Kegelbahnen!) glücklich erreicht ist.
Foto: Bergbaumuseum Oelsnitz