tour_tagebuch
Die Bierstuben sind noch fern (251)
War es ein feiger Anschlag fundamentalistischer Fastenfreunde im Rom der Evangelen, der Lutherstadt Wittenberg? Nur durch beherztes Herbeirufen eines fachkundigen Elektrikers zur schönsten Bundesliga-TV-Zeit bewahrt Chefwirt Benni Bang das Irish Harp, nach einem Kabelbruzzler im Verteilerkasten, vor ewiger Dunkelheit und Verdammnis. Aufatmen allerorten, als Pratajevs Erben vorm ersten Guinness an der Schnapsbar stehen. Die ruhmreichen Folgen des vorausgegangenen, 250. Konzertes sind ad absurdum geführt. Lange wurde geschlafen, gleichwohl lange dauerte es auch, bis der Promillepegel aller Beteiligten wieder gen Null tendierte. Nun kann nichts mehr schiefgehen: Auto entladen, Bühne, frische Monitorboxen bewundern, zweite Runde Guinness bestellen. Dann vielleicht ein Kilkenny. Man muss im Grunde gar nichts bestellen - steht einfach schon da. Herrlich, wenn einem die Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Wenn die harte Wirtin lächelt. Hunger? Immer! Den Wanderern werden Speisen gereicht. Ewig soll das so anhalten, na zumindest bei Konzerten im heiligen Geiste und Sinne Pratajevs. Wollen mal schauen, ob selbst in der fastenzeitlichen Lutherstadt gefesselt und geknebelt wird, ob sich die Rümpfe wiegen, die Brüste beben und allen der Schnaps schmeckt.
Und wie! Der erste Konzertblock macht’s bereits möglich. Bis halb Mitternacht steigert sich das Stimmungsbarometer zum Diskant; wer eben noch still in der Ecke saß, greift zum Glas, wiegt den Kopf und verurteilt jedes Stillleben. Ab und zu blickt Doktor Pichelstein, beim Schluck aus der Konserve, ins freundliche Fußgängerfeld der Spaziergängernacht. Dort, auf dem nassen, nächtlichen Kopfsteinpflaster, ist es wie immer: Ältere Männer werden von älteren Frauen Gassi geführt. Die Männer bleiben stehen, sehen ins Leuchtfeuer, ins Fenster, das pure Glück des Irish Harp vor Augen. Doch sie müssen weiter, dürfen nicht hinein zu den Russian Doctors, an die Schnapsbar. Nein, sie müssen weiter und wissen seit Jahren nicht mehr warum. Wie passend, dass Doktor Makarios den „Raucher von Bolwerkow“ ankündigt.
Um Punkt 12 geht’s weiter; die sehr junge Teilzeit-Schwesternschülerin Pia hat Geburtstag. Zum Geschenk gibt’s live den „Rumpf“ und ein Liederbuch Pratajevs. Möge dieses Werk überdimensionales Glück bescheren, denn damit lassen sich große Teile der Pratajevschen Hinterlassenschaften prima auf der Gitarre nachspielen und auch singen. Unterdessen schunkelt eine Harzreisefamilie klatschend die Menge durcheinander, spielen die Doctors sich selbst in die Zugaben hinein und sind recht froh, als aus den Wirtshausboxen alsbald Musik erklingt. So süßlich-trocken wie ein guter, irischer Whiskey. Den gilt es nun zu trinken. Die Bierstuben mit ihren Doppelbetten sind noch fern. Halleluja! Morgen ist erst wieder Fastenzeit. Heute lang noch Feierzeit.
Zweihundertfünfzig! (250)
Ein Hauch Aufregung durchzieht die letzten Tage. Je näher das 250. Konzert der nachweltlichen Geschichte Pratajevs rückt, umso heftiger sickert’s Adrenalin bauchabwärts. Als Tags zuvor in der Leipziger Volkszeitung Doktor Pichelsteins Interview über die intimen Hintergründe des sich anbahnenden Flowerpowerabends in Bild und Text erscheint, wird’s nicht besser. Leichtsinnig erklärte der Gitarrenverantwortliche der Doctors dort, dass „meinetwegen 250 Stunden“ gespielt werden könne. Die Folgen blieben nicht aus und sollen an dieser Stelle keineswegs unerwähnt bleiben. Ja, wie die Zeit vergeht. „Sollen wir vorher proben?“, fragte ein Doktor vorfeldig den anderen. „Ach wozu“, sagte der. Wie recht er hatte. Bislang war es zudem so, dass es Pratajevs Lyriken beinahe ausschließlich via Soundcheck schafften, ins Liveprogramm zu gelangen. Manche wurden darüber hinaus gar völlig vergessen. Nur beinharte, doctoreske Konzerthistoriker werden sich diesbezüglich noch an frühe Stücke wie „Im Mondlicht die Pappel zittert“, „Die Wumme“, „Kamm aus Horn“ oder „Der Rumpf“ erinnern.
Vorboten des Frühlings lassen die Sonne tief ins Gemüt scheinen, gut so. Auch der Parkplatz vorm Leipziger Flowerpower wird zum Geschenk. Dann mal alles rasch hinein, die Bühne aufgebaut, das Bagel-Catering verdrückt – mit fettigen Fingern davon gleich die ersten Gäste begrüßen. Chemnitz-Stadt ist schon da; Karl-Marx-Land folgt später und Gurt Kaktus, nebst sehr junger ex-Praktikantin, beleuchtet das Sein mit sich und einer neuen Schnapsschwarzmarktblüte namens „Prumskis Beschleuniger“. In der Drittelpause wird’s eine Pratajev-Tombola geben; unglaublich, was der Herr Kaktus dafür alles aus seiner Plastetasche zaubert. Selbst ein Buch aus der Bibliothek Anatoli Prumskis befindet sich darunter, versehen mit einem Echtheitszertifikat von Prof. Igor Bulgatschow II sen. Die Uhr schlägt 21 Uhr; das Flowerpower wird zum Füllhorn, an der Schnapsbar machen sie sich Sorgen: Kein Durchkommen mehr ab 21:30 Uhr. Wenn doch bloß endlich mal jemand die Kneipenrohrpost erfinden würde. Euros in die Schatulle, Getränk feuert zurück. Dann feuert die ankommende Berlin-Sektion.
Vertreter des modernen Pratajevforscherflügels, in Persona: Winogradow, Eademakow nebst Damengeleit, rumpfgehüllt in rotes Shirtzwirn, darauf gedruckt: schwarzes Kyrillisch zur Feier des 250. Konzerttages, wie der frohgemuten Ankündigung nach der 2. Drittelpause gar selbst die Pratajevbühne entern zu wollen. Und zwar mit der Darbietung eines Stückes der Gypsy-Punk-Band Gogol Bordello, von dem im weiteren Verlauf der Pratajev-Forschung noch die Rede sein wird. Eine Botschaft also schöner als die andere. Das verehrte Volk um Goethes Erbsen weiht dem Tag gar eine Bildung, schwarze Farbe auf Stoff, Pratajev im Kreis der Doctors. DAS Relikt fürs Dichtermuseum, von dem ja immer mal wieder die Rede ist. Eine dreiviertelkomplette Bürogemeinschaft ergattert den letzten freigehaltenen Platz: Betriebsausflug am Donnerstag! Freitage werden überbewertet! Das denkt sich seit Jahren ebenso jener Sizilianer mit bayerischem Dialekt, der fortan mit einer Vertreterin aus Chemnitz-Stadt in Kommunikation gerät. Psychologen, Vertreter der Universität Leipzig, lange nicht/eben erst/nie gesehene Menschen drängen sich vor die Bühne. "Irgendwo im Volk muss mein Doktor sein", denkt der eine Erbe Pratajevs über den anderen. „Vorsicht, Vorsicht“, brüllt Chefkellner Strobi mit dem vollsten Getränketablett in Händen, was je eine Flowerpowertheke verließ…
Viele dieser großen, kleinen Geschehnisse im Konzertheißlauf gibt es weiterhin zu berichten; die Zeit rinnt dabei selbst beim Beschreiben von der Uhr - wie’s Flüsschen zum Bache schwillt. Allen sei an dieser Stelle ausdrücklich, herzlich, russisch, drückend, händeringend, bruder- und schwesterküssend gedankt! Und wer nicht da war, wer das 250. Konzert der Russian Doctors im Flowerpower tatsächlich verpasste, nun ja, der muss vom Hörensagen leben. Aber das kann auch nicht schaden, denn die nächsten Konzerte kommen ganz gewiss. Wiegt Eure Rümpfe dazu! Statt weiterer Berichterstattung, nunmehr Eindrücke, gefangen genommen von Branislav Malymozek, dessen Leitsätze fürs neue Jahr hier gerne wiedergegeben wird:
Neues Jahr
Wunderbar
Das alte weggesoffen
Das neue lässt uns hoffen
Auf guten Schnaps und schöne Frauen
Auf was zum Rauchen, was zum Kauen
Und Freunde, die mit dir was singen
So wird das neue Jahr gelingen