Verkoste Rattenhirn oder: Mach’s wie Freddy Mercury, mit mehr Emotion (246)


Zwei Tage nach dem Konzert in der Chemiefabrik Dresden huscht bisweilen noch ein langsames Lächeln ins Gesicht; Doktor Pichelstein schlief tags drauf glatte 13 Stunden in den nassen Sonntagnachmittag hinein. Da waren beide Doctoren längst wieder zuhause, selbst fiese Schneestürme auf dem Autobahnrückweg wurden kongenial bezwungen, zuvor sogar die Übernachtung in einer so genannten Musikerwohnung, ab fünf Uhr in unschuldiger Früh, überlebt. Die Berliner Support-Band hatte sich Stunden zuvor dort bereits eingenistet - und jedes noch so kleine Zimmer mit sich vollgemacht. Es sind halt die kleinen, feinen Unzulänglichkeiten, welche konsequent rasch im Tourleben gelöst werden müssen. Der Gitarrendoktor besorgte sich aus dem Bad Fensterstoff als Zudecke, Doktor Makarios verschlug es im vollen Ornat in ein doch noch unbelegtes Etagenbett. Lange Stunden zuvor begann der Freitag im russischen Väterchen Frost.

 

Doktor Pichelstein lenkt das Tourauto auf den Parkplatz vor die Chemo, halb sieben schlägt die Kirchenuhr; wie man es schaffte, während der gesamten Fahrt MDR Inforadio mehr oder weniger zu lauschen, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Vermutlich verließ sich der eine Doktor auf den anderen, Antenne Sachsen zu justieren. Denn nichts geht eigentlich über einen Schlager am Abend wie diesen hier: „Sie hat’s ihrer Freundin erzählt“. Interpret: jener im Tourtagebuch der Russian Doctors bereits mehrfach ausgezeichnete, unschlagbare Sänger Frank Ramond (auf der Rückfahrt, Höhe Paunsdorf-Center, Leipzig, endlich zu Gehör gekommen, vom Donner gerührt, keine Frage). Ute Kiez schreibt am 27.11.2011 über ihn auf seiner Facebook-Seite: „Schlaue deutsche (!) Texte, alltagstauglich und doch anspruchsvoll! Ich bin totaler Fan!“ Liebe Ute, sagen wir da: Wir auch. Und ergänzen: Wenn Frank Ramonds sonore Stimme in den Keller treibt, uns nichts anderes übrig bleibt, als ungläubig zu schauen und Zahnpflegekaugummi zu kauen. Bei Worten und Tönen, die jede Fahrt verwöhnen. „Aber mein Doktor, er ist nicht der Kaiser“, sagt bei Ende vom Lied der Pichelstein dem Makarios. „Nein, mein Doktor, der Kaiser ist und bleibt der Roland!“ Damit wäre das auch geklärt. König Wulff hin oder her.

 

Mit dem Chef vom Dienst plauscht man derweil am Chemo-Tresen. Mario ist für die Doctors seit Anbeginn der jüngeren Pratajev-Posthistorie in Laut ein echtes Geschenk und jedes Wiedersehen muss zunächst einmal freudig begossen werden. So auch heute; Support „Diving for sunken treasure“ trudeln in voller Stärke ein; die Ledertrompete bläst zur Attacke. Der Soundcheck der Berliner verrät: Wau, Let’s go Gypsie-Punkrock feat. Akku-Schlagkraft. Selten, dass die Doctors mit einem derart passendem Kollegenprogramm auf der Bühne stehen dürfen. Stimmt nicht ganz, erst spielt Berlin, dann Leipzig. Und dazwischen liegen trunkene Stunden unter Freunden, im ewigen Marsch zwischen Merchstand, Theke und keramiklastiger Örtlichkeit. Die Pirnaer Pratajev-Freunde sind fein zahlreich genauso auszumachen wie die Schwarzbrennerin Silvi (ein holder Dank dem 45%igen Holundergeschnäpsle! Die Flasche war am Morgen doch glatt verköstigt) nebst Boris Brutalowitsch. Sämtliche Fotofreuden sind bereits jetzt unbändig groß; das Booklet vom Konzert wird’s gewiss dito bald geben. Genau 120 zahlende Gäste drängen sich derweil umher, längst sind’s nicht alle, so der Eindruck. Es fließt jede Menge Rattenhirn von der Getränkekarte in die Gläser; eine Mixtur aus Eier- und Kirschlikör. Wie’s schmeckt, wird den Doctoren ein hehres Geheimnis bleiben. Gespeist wird zwischendrin, gekühlt der Schlund mit Strohhalm-Rum.

 

Dann endlich, kurz nach Geisterstunde, ist die Bühne frei. Doktor Pichelstein gibt sich wahrlich Mühe, aus Haufenweise Kabelsalat mit Pedaldressing eine anständige Beschallung in die Wege zu leiten. Doktor Makarios huscht schnell zum Tourauto. Wäschewechsel Richtung Schwarzhemd. Keine Zeit bleibt mehr fürs Setlistenstreuen; das Intro läuft bereits und die Feldrandmänner geben Schnellgitarrengas. Angelina, Vertreterin der Chemnitz-Fraktion, ist da leider schon fort. Doch der Zug kommt nicht; am Dresdener Bahnhof heulen bei Hasenwetter stattdessen Wölfe, was für ein Drama. „Tut mir leid für Angelina, wir würden auch gern 22:00 Uhr anfangen“, beschreibt sich später die Facebook-Situation trefflich.

 

Es wird ein Konzert ohne Pause, also ein gefühlt pausenloses Konzert. Eine ewige Verzahnung großer bis kleiner Pratajev-Episoden. Der rote Faden drunter wird gewebt mit romantischem Schnaps an trunkenen Weibern. Mitunter werden sich gar die Punks im Pulk prügeln, zunächst um sich selbst, dann ums Mikro des Doktor Pichelstein. Merke: Sternburger kommt vor dem Fall. Oder war es der hohe Mut? Doch das beinahe erst zum Ende hin. Da sind knapp drei Stunden gespielt, Pichelsteins Finger waidwund, Doktor Makarios‘ Stimme tönt nur noch wie Radio Eriwan auf Kurzwelle. Und obwohl gar nicht so viele Schnäpse auf die Bühne gereicht wurden, besonders kein Rattenhirn, fühlt man sich arg trunken auf dem Bühnenschiff und trägt Schlotternde Knie.

 

Der Zugabeblock wird endgültig zum Pogomoloch; berechtigte Angst hat nur der Tonmischer um die Subwoofer in seinen PA-Boxen, wenn wieder einer satanisch ins Mikro grölt: „Tote Kotzen öm Wöööönd…“ Doktor Pichelstein soll in der Folge eine reichlich figurbetonte Selbstgedrehte rauchen, doch er lehnt dankend ab. Wer weiß, was da drin ist? Dann beruhigt sich der Saal, der Zeitpunkt für Luft-Feuerzeuge ist eigentlich gekommen: Mit der Romantikballade „Der Bauch“ befriedet Doktor Makarios schließlich die Seinen vor ihm und weckt justament verborgene Emotionen damit. Sie kommen in Gestalt eines grauen Pullovers, eines zarten Brillengewandes, immer näher und sie sagen zu ihm: „Das war Emotion. Mach’s wie Freddy Mercury, so musst Du immer singen, mit mehr Emotion, verstehst Du? Emotion!“ Dem ist absolut, an einem Tag wie heute, rein gar nichts mehr hinzuzufügen.

 

 

 

Miloproschenskojer Erntefest mit Notfallaufnahme (245)


Am Tag nach der großen Sause bei Frau Krause: Doktor Pichelstein kurz vorm Fußröntgen im Wartezimmer der Notfallklinik am Thonberg (Absturz von der Bühne, Diagnose: Bänderanriss), Doktor Makarios (Absturz an der Schnapsbar, Diagnose: Frau Krause-Koller, leicht unpässlich bereits auf dem Weg zum Blankenhainer Art-Privatkonzert). Es heißt, der Sangesdoktor habe die dortige Schnapsbar erstaunlich lange Zeit gemieden. Aber das ist ja auch kein Wunder. Oder doch - eigentlich war’s vorherzusehen. Hier der Versuch einer kleinen Rekapitulation diverser Ereignisse, versehen mit Fotomaterial aus dem Hause Kaktus:

 

Der 18. November 2011 ist ein typischer Brrr-Tag im Herbst. Froh darf man sein, endlich Frau Krauses Tür im Leipziger Süden erreicht zu haben. Warm ist’s drinnen, T-Shirt-Temperatur, das melodiös gezapfte Staropramen perlt durstige Kehlen hinab. Der Tisch der Stammgäste empfängt die Doctors voller Liebe zur pratajevschen Kunst. Kann es doch heute nur beherzigend heißen: Jeder Schluck ist ein guter Schluck. Derweil erreicht der Nordbooker, Peter aus Wismar, das hehre Ziel des Abends. Planungen fürs Konzertjahr 2012 beim ersten Becherovka folgen; Doktor Pichelstein schraubt beide Gitarren zurecht, Doktor Makarios versorgt’s Mischpult mit passender Kabellage vorm Soundcheck. Als Bühnendekofachmann versucht sich erneut sehr erfolgreich Gurt Kaktus. Die Miloproschenskojer Erntefestgirlande hat es in sich. Und auch die heimische Schwarzbrennerei wartet mit einem neuen Produkt unter dem erfolgsversprechenden Label „Nacktschneckenschnaps“ auf. Dazu werden Restbestände "Katzenblut" gereicht. Satt vom pompösen Schnitzelteller reiben sich Makarios und Pichelstein, drüber sehr zufrieden, die Augen. Dann wird’s voll, richtig voller und voller. Dabei ist Karl-Marx-Stadt heute lediglich zweifach vertreten. Aber – und das muss erwähnt werden: dafür gesund und munter.

 

 

Stone überreicht Doktor Pichelstein noch einen Prager-Livemitschnitt aus dem Frog-Records-Archiv, ein letztes Staropramen gibt’s im Stehen, Hallosagen und Gehen. Dann heißt’s nach Introende mal wieder: „Wenn die Blätter fallen / steigt aus allen Gallen / eine bösartige Substanz.“ Lange nicht mehr gespielt, die „Schwermut im Herbst“. Bereits nach der ersten halben Stunde reißen Doktor Pichelsteins Gitarrenfingerpflaster – oder sollte besser gesagt werden: Nach den ersten (gefühlt) fünf Bühnen-Schnapsrunden? Rasant jagen sich die Heimatlieder durch Frau Krauses Katakomben; bis zur ersten Drittelpause stellt Doktor Pichelstein seinen Leipzig-Rekord im Schnell-Gitarrespielen viermal ein. Und rettet sich in die Kühlbox mit frischen Verbänden. Ins Innere der Krause stromern nunmehr herrlich verkleidete Rammstein-Konzerttouristen; es gibt kein Durchkommen mehr.

 

 

Irgendwann, so gegen Anfang des zweiten Konzertdrittels, gibt Gurt Kaktus, qua Ansage, die Miloproschenskojer Erntefestgirlande fürs Publikum frei. Sofort sieht man eifrige Menschen an Pratajev-Schnapsfläschchen saugen; einige Mädchen zieren sich’s Haupt mit Maiskolben. Nie sahen sie schöner aus. Und weit kamen sie her. Aus Oelsnitz etwa oder aus Potsdam. Beim Wirtsleutelied gibt’s heute kein Durchkommen für die Spenderdose. Liebe Wirte, verzeiht; das holen wir im nächsten Jahr alles wieder rein. Wieder erreicht ein schwankendes Schnapsbar-Tablett die Bühne. Über alle Tierlieder des mittleren Urals hinweg.

 

Nach Ende des zweiten Drittels sind über zwei Stunden gespielt; Zugaben folgen im Wunschblock. Doktor Pichelsteins Finger bluten. Die Doctors baden im Schweiß und schon wieder ertönt der virtuelle Gong: Weltrekord für Doktor Pichelstein im Lied über den „Bösen“ oder über die „Kuh“ oder nein – „Der Tierarzt“ kann’s nicht gewesen sein. Den gibt’s später aber auch noch. Wie den „Bauch“, „Als das Eis kam“ und so weiter. Besonders erinnerlich bleibt natürlich Pratajevs Ode an die „Schnapsbar“. Und dann passiert’s: Das eigentlich rasche Liedchen mit den zwei Sangesstrophen ist mittlerweile nur noch im Walzertakt möglich, steigert sich dennoch gegen Ende zum Hurrikane. Doktor Pichelstein wirft die Gitarre zurück in den Ständer, Doktor Makarios flieht unter Klatschgewittern von der Bühne. Pichelstein will mit einem Satz seinem Doktor hinterher, landet beim Absprung aber direkt auf einem geerdeten Bierglas, geht zu Boden und kriecht schmerzumwunden gen Merchstand. Aber die Welt ist gut. Für kurze Momente des erlösenden Glücks.

 

 

Sofort wird ihm eine nicht unerhebliche Menge Ibuprofen an leckerem Nacktschneckenschnaps eingeflößt. Dann geht nichts, wahrlich gar nichts mehr und tags drauf wird der Elefantenfuß von sehr jungen Schwesternschülerinnen umsorgt. Der Chirurg schmunzelt nicht schlecht, als das Unfallprotokoll aufgenommen wird. Zu den Russian Doctors muss er unbedingt mal hin, sagt er noch. Und um diesen Erläuterungen ein kleines PS hinzuzufügen: Doktor Pichelsteins Teilnahme an den nächsten Gitarren-Paralympics ist lediglich ein Gerücht.

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