Im Fahrradladen gegenüber (252)


Hinlänglich bekannt dürfte es sein, dass die mittelbare Konfrontation in Sachen Leipziger Buchmesse der unmittelbaren (Messegelände, Rudelbildung, Jahrmarkt der Eitelkeiten uvm) immer vorzuziehen ist. Nicht nur Sozialphobiker schwärmen deshalb mittelbar von einem Setting namens „Leipzig Liest“; verteilt auf die gesamte Heldenstadt lesen sich Autoren darin Wölfe. Die Orte dafür sind einmal interessant (Buchhandlungen, Uni-Hörsaal der Rechtsmedizin), nett (Kneipen), verwegen (Hinterstübchen) und anderweitig seltsam. Pratajevs Erben buchte man, mitsamt der Punchliner-Leseshow, ins Verlagshaus PaperOne. Es radelt der Doktor Makarios hin, Doktor Pichelstein nutzt widerwillig den öffentlichen Nahverkehr. Widerwillig deshalb, weil Leipzigs Busse und Bahnen, vor allem in der Wochenendzeit ab 18 Uhr, auf den Magistralen elendig überfüllt sind. Zu geht’s wie vorm Spätverkauf, Schweiß und Siechtum beflügeln die Luftfeuchte. Was man nicht alles auf sich nimmt, damit das Auto zuhause bleiben darf. Man spielt total unplugged und dafür braucht es kein schweres Bühnengerät.

 

Die PaperOne-Belegschaft rechnet mit 20 zahlenden Gästen. Nun ja, unbekannterweise. Denn hinter einer „Punchliner-Show“ stecken schon die literarischen Slam-Hochkaräter Micha-El Goehre, Marian Heuser, Björn Högsdal, Andreas Weber, Torsten Wolff und Axel Klingenberg. Was tun? Rübergehen, ins Dr. Seltsam. Ein Mix aus Fahrradladen und Kneipe. Die Merseburger Straße weiß immer Lösungen. Vielleicht hätte man sogar ins Noch Besser Leben umziehen sollen, denn auch das Seltsam platzt bald aus allen Nähten. So hockt Doktor Pichelstein gitarrestimmend hinterm DJ-Pult, sitzt Doktor Makarios auf einem Puppenhaus-Gitarrenverstärker. Die Stimmung ist prächtig und Stimme gewinnt. Die Russian Doctors eröffnen mit „Da hält der Wind den Atem an“.

 

Die geneigten Slam-Kollegen sind bester Laune; da kein Platz mehr für den obligatorischen Buchstand ist, verdingt sich Verleger Andreas Reiffer, naturgemäß dito für die Pratajev-Bibliothek zuständig, als Autoherausverkäufer auf dem Straßenkopfstein. Es klirren die Flaschen, es tanzen die Gläser. Drinnen wie draußen nehmen Schnapslaunen Gestalt an. Intermittierend greifen die Doctors ein, Stichworte aus Vorträgen aufschnappend, Pratajevs Texte ins Dr. Seltsam hinein schmetternd. Gemeinhin ein seltsam schöner Abend, Schlusssirene: Jeder Schluck ist ein guter Schluck. Und jeder Weg in die nächste Kneipe, ins NBL, ein kurzer Weg. Gerne wäre man noch hinausgegangen, um den Punchliner-Tross zu verabschieden, doch der eisgekühlte Becherovka glänzte einfach zu sehr. Deshalb an dieser Stelle, nachholend erwähnt: Gute Heimreise!

Die Bierstuben sind noch fern (251)


War es ein feiger Anschlag fundamentalistischer Fastenfreunde im Rom der Evangelen, der Lutherstadt Wittenberg? Nur durch beherztes Herbeirufen eines fachkundigen Elektrikers zur schönsten Bundesliga-TV-Zeit bewahrt Chefwirt Benni Bang das Irish Harp, nach einem Kabelbruzzler im Verteilerkasten, vor ewiger Dunkelheit und Verdammnis. Aufatmen allerorten, als Pratajevs Erben vorm ersten Guinness an der Schnapsbar stehen. Die ruhmreichen Folgen des vorausgegangenen, 250. Konzertes sind ad absurdum geführt. Lange wurde geschlafen, gleichwohl lange dauerte es auch, bis der Promillepegel aller Beteiligten wieder gen Null tendierte. Nun kann nichts mehr schiefgehen: Auto entladen, Bühne, frische Monitorboxen bewundern, zweite Runde Guinness bestellen. Dann vielleicht ein Kilkenny. Man muss im Grunde gar nichts bestellen - steht einfach schon da. Herrlich, wenn einem die Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Wenn die harte Wirtin lächelt. Hunger? Immer! Den Wanderern werden Speisen gereicht. Ewig soll das so anhalten, na zumindest bei Konzerten im heiligen Geiste und Sinne Pratajevs. Wollen mal schauen, ob selbst in der fastenzeitlichen Lutherstadt gefesselt und geknebelt wird, ob sich die Rümpfe wiegen, die Brüste beben und allen der Schnaps schmeckt.

 

Und wie! Der erste Konzertblock macht’s bereits möglich. Bis halb Mitternacht steigert sich das Stimmungsbarometer zum Diskant; wer eben noch still in der Ecke saß, greift zum Glas, wiegt den Kopf und verurteilt jedes Stillleben. Ab und zu blickt Doktor Pichelstein, beim Schluck aus der Konserve, ins freundliche Fußgängerfeld der Spaziergängernacht. Dort, auf dem nassen, nächtlichen Kopfsteinpflaster, ist es wie immer: Ältere Männer werden von älteren Frauen Gassi geführt. Die Männer bleiben stehen, sehen ins Leuchtfeuer, ins Fenster, das pure Glück des Irish Harp vor Augen. Doch sie müssen weiter, dürfen nicht hinein zu den Russian Doctors, an die Schnapsbar. Nein, sie müssen weiter und wissen seit Jahren nicht mehr warum. Wie passend, dass Doktor Makarios den „Raucher von Bolwerkow“ ankündigt.

 

Um Punkt 12 geht’s weiter; die sehr junge Teilzeit-Schwesternschülerin Pia hat Geburtstag. Zum Geschenk gibt’s live den „Rumpf“ und ein Liederbuch Pratajevs. Möge dieses Werk überdimensionales Glück bescheren, denn damit lassen sich große Teile der Pratajevschen Hinterlassenschaften prima auf der Gitarre nachspielen und auch singen. Unterdessen schunkelt eine Harzreisefamilie klatschend die Menge durcheinander, spielen die Doctors sich selbst in die Zugaben hinein und sind recht froh, als aus den Wirtshausboxen alsbald Musik erklingt. So süßlich-trocken wie ein guter, irischer Whiskey. Den gilt es nun zu trinken. Die Bierstuben mit ihren Doppelbetten sind noch fern. Halleluja! Morgen ist erst wieder Fastenzeit. Heute lang noch Feierzeit.

 

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