Heute keine toten Katzen (262)

Wintereinbruch! Kurz vor Abreise muss das Tourauto in die Werkstatt. Energisches Piepen der Kühlwasseranzeige treibt Doktor Pichelstein in den Wahnsinn. Draußen ist es glatt und fies und feucht. Schneenass wird die Backline der Russian Doctors schließlich verladen, los geht’s nach Brandenburg. Kaum zu glauben, dass dort die Sonne scheinen soll. Aber wie könnte es auch anders sein – Baumfreund Ekmels 40. Geburtstag wartet in Neuendorf bei Teschendorf, aus Richtung Oranienburg kommend. Ein erquickender Anlass.

 

Doktor Makarios steckt bereits ein Die Art-Konzert in den Knochen; an den Autobahnrändern tummeln sich liegengebliebene Fahrzeuge. Es läuft die Bundesligakonferenz; jedes Mal, wenn sich Sabine Töpperwien aus Gelsenkirchen meldet, zucken die Glieder unweigerlich zusammen. Die Nachrichten berichten von einem Supersturm namens Sandy. „Der nächste wird dann wohl Peggy heißen“, sagt ein Doktor zum anderen. „Der Rotarmist“ lässt grüßen.

 

Ankunft im brandenburgischen Neuendorf. Die Zeit ist stehen geblieben. Mindestens 20 Jahre. „Hier fahrt ihr bis an den Waldrand und dort nach links den Weg entlang. Nach ca. 250 m seht ihr schon die Auffahrt zum Ferienlagergelände“, verkündet die bezaubernde Navigateuse, nach Studium der Einladungskarte, vom Rücksitz her. Wenig später gleitet das Tourauto vom Weg ab und kommt neben einem Jägerhochsitz zum Stehen. Im Wald. Fehlt nur noch eine depressive Straßenbahn; die Pratajev-Szene wäre komplett. Doch auch so ist’s nebelig, gespenstisch, der Wagen setzt auf. Doktor Pichelstein umkurvt im 10er-Tempo Wolfsfallen-Schlaglöcher. Bloß zurück zur Teerpiste. Erlösung naht. Das Jugendgästehaus wird erreicht. Schnell hinein, zum Baumfreund Ekmel, zur bereits sitzenden Gesellschaft, an die Schnapsbar. Schön hier! Beim Anblick vorhandener Damenwelten weht einem glatt ein Hauch Helga Bauer entgegen. Brandenburger Bierliter werden gereicht. Schnell muss nachgezapft werden, denn ein BBL entspricht in Wahrheit einer Glasfüllmenge von 400 ml.

 

 

Baumfreund Ekmel eröffnet, der Applaus brandet. Nicht nur Kalfs Knoblauch-Lamm ist ein Genuss; die Trauben am Buffet reißen nicht ab. Auf der Bühne singt bereits glockenhell eine zauberhafte Stimme Juwelen vergangener Tonkünste. Die Einstimmung gelingt, draußen lodern die Feuerkelche. Wenn nur sanfte Trauer nicht wäre. Denn vor weniger Zeit schied eine Katze dahin. Die Doctoren werden deshalb gebeten, entsprechendes Liedgut ausnahmsweise heute nicht zu Gehör zu bringen. Was tut man nicht alles. Und trinkt erst mal einen gelben Schnaps in trauter Runde.

 

Dann soll’s losgehen; Makarios und Pichelstein mühen sich mit dem Soundcheck und weil der unnatürlich lange dauert, steht man plötzlich mitten im Konzert. Ohne Getränke, was nicht lang so bleibt. Schon rollt die Erstversorgung, dann erreicht der Nachschub die Erben Pratajevs. So muss es sein. Doch plötzlich. Ein Katzenlied! Keine Sorge, die Botschaft in „Frauen die wie Katzen kreischen“ ist als weitesgehend harmlos zu betrachten. Es geht um Männer, die lieber ins Wirtshaus wandern, statt sich mit kreischenden, betrunkenen Frauen in Gespräche verwickeln zu lassen. Nach der ersten Schnapsbar winkt der Pausentee, locken lodernd die Feuer. Der Schnaps wärmt und mit ihm wird geschwatzt, was das Zeug hält. Dann zurück auf die Bühne für den zweiten Konzertblock. Zustimmungen erreichen Höhepunkte; die Pratajev-Riots in den ersten Reihen singen jede Zeile mit. Traumata werden in den Zugaben verarbeitet („Der dumme Nachbarsjunge“), Das „Lob des Schweines“ beflügelt zum baldigen Grillen eines solchen. Schlussendlich ruft leckerer Kuchen: „Nimm mich“, Luc Stargazer spielen im Anschluss heftig, melodiereich und gerecht.

 

Würde jeder Mensch auf Erden einen so feinen 40. Geburtstag veranstalten, es gäbe keine Not, keinen Hunger, die Völker lägen sich lachend, auch lallend in den Armen. Es herrschte allerorten Weltfrieden. Nicht nur in Neuendorf bei Teschendorf. Vielen Dank lieber Baumfreund Ekmel für diesen Abend, für den Morgen danach und sowieso dafür, dass es Dich gibt.

 

Herzscheiße auf 92,8 (261)


Durch die Musikerwohnung, schräg gegenüber vom gestrigen Blumeninferno, ziehen dichte Bratschwaden. Es ist kurz vor 10 Uhr morgens, als Doktor Makarios den Quell des Übels in Küchennähe ausmacht. Ein ehemals vegan lebendes, bunt verziertes Mädchen brät Pressfleisch in einer Pfanne und geht gerade dazu über, einen Klumpen Gouda darauf zu verteilen. Auf der Nachbarkochplatte blubbert ein Schlag Erbsen aus dem Glas. Ihr männlicher Begleiter klappert derweil mit letzten Kräften (die Nacht war lang) Teller und Besteck herbei. „Frühstück“ wird gerufen. „Um Himmels Willen“, rufen beide Doktoren nacheinander zurück. „Ein Kaffee wäre schön“, wagt Makarios den Quantensprung an Lebensfreunde. Wasser in Caropulver wäre möglich. Da wendet man sich lieber anderen Dingen zu. Doktor Pichelsteins angeschmutztes Beinkleid etwa bedarf dringend einer Reinigung, gesagt getan. Merke: Kleines Gepäck zur Tour entbehrt stets eine zuweilen notwendige Ersatzhose. Dann geht’s wieder rüber ins Flowerpower. Die Welt ist gerecht, hält heißen Kaffee vor - am Tresen sitzend ist sie jederzeit wunderbar. Guten Morgen, Stadt der Moderne, Druschba Chefwirt Danny! Die Sonne scheint. Alle sind tiefenentspannt; sogar die fleißig kehrende Reinigungskraft ist zum Philosophieren aufgelegt.

 

 

Draußen, unterm vorderen Autoscheibenwischer, klebt bereits ein Gruß des Chemnitzer Ordnungsamtes. Im Auftrag des, wie es heißt „gemeindlichen Vollzugs“ grüßt eine fesche Damenhandschrift, Vorname M-Punkt. Mehr ist nicht zu entziffern. „Pfff“, macht man da nur, stellt den Heimatlieder-Radiosender an und ab dafür. Zeit genug bis Dresden, also rasch runter von der Bahn, an der Elbe entlang, Richtung Meißen. Dampfer gucken, lecker Essen. Das ist das Ziel.

 

Funny van Dannen hatte Recht mit seinem Hit „Herzscheiße“. Was weibliche wie männliche Interpreten auf der MDR-Tourfrequenz 92,8 zum Thema Cor versus Kardia anführen, ist genauso gemeint, wie der verehrte Herr van Dannen es in seinem Lied beschrieb. Sätze wie „Liebe geht im Herzen los“, „Mein Herz schreit nach Liebe“ oder „Lass mein Herz endlich in Ruh“ sind keine Seltenheit. Als perplexer Zuhörer, diesem Herz-an-Herz-Irrsinn amüsiert lauschend, wähnt man sich beinahe auf dem zuletzt schwer in der Kritik stehenden Gebiet der Organspende. Wenn es heißt: „Mein Herz gehört nur Dir“, „Dein ist mein ganzes Herz“ oder „Lass Dein Herz bei mir“. Im Wunschtitel eines Hörers wird dann sogar noch auf den wehrlosen Hohlmuskel eingedroschen. Im nächsten (Textauszug: "Mein Herz ist verwundet") werden einem Nebenbuhler gleich Schläge androht („Was macht der Typ bei dir / Ich hau ihm gleich eine rein“ – jedenfalls so ähnlich; man kann sich das alles gar nicht merken).

 

Eindrucksvoll erschlagen, beinahe froh über manches Funkloch, wird ein Elbufer samt Restaurant „Zuessenhaus“ erreicht, die Mittagskarte studiert, in sonniger Sehnsucht bestellt. „Unsere Speisen werden alle frisch zubereitet; es dauert deshalb länger, bis sie nach ihrer Bestellung serviert werden“, ist kartenabwärts zu lesen. Nach knapp einer Stunde friedlichen Dösens darf dann göttergleich getafelt werden. Welche Freude!

 

 

Als die Doktoren lange Zeit später aufs Areal der Dresdener Chemiefabrik einbiegen, gezeichnet vom Stadtverkehr, bedingt durch weniger gloriose, verkehrstechnische Ampelschalt-Unfähigkeit der Stadtplaner, ist die Erleichterung allenthalben groß. Chefwirt Mario wird geherzt, das erste Felsenkeller schmeckt, die heutige Vorband heißt Herbst in Peking; Luft wird ergo geschwängert werden von berauschenden Substanzen. Es folgt ein Soundcheck der Doctors, einer mit h.i.p und ja, da sind sie wieder da. Wie man sie einst kannte. Dunkel, grenzpunktig, berlinböse, beatdurchtrieben, herbstlich eben. Schön, sich das später als ganzes Konzert anhören zu dürfen. Enjoy your personal demon! Noch ein Felsenkeller drauf. Seligkeit ist ein hohes Gut.

 

Auch heute wird’s rasch voll; die Pratajev-Forscher Winogradow und Eademakow seien hier stellvertretend, gemeinsam mit den Damen vom Orden des Gelben Fettfrosches, für alle Dichterfreunde genannt. Erste bis mittlere Eindrücke obsiegen, dass es eine lange Nacht werden wird, ja muss, denn Herbst in Peking lassen sich gerechte Zeit im Spielprogramm. Doch plötzlich schwingen sich die Doctors auf die Bühne; alles muss jetzt ganz schnell gehen. Jedes Kabel, jeder Stecker sitzt. Das Intro ertönt, die Beine sind zwar schwer von Schnapsbar-Kaltgetränken, doch der Chemnitz-Funke von gestern ist gleich da und zündet. Erste Punks liegen Doktor Pichelstein zu Füßen; es wird geprostet, von der Bühne gesprungen, gegrölt und mitgesungen. Eine Pause gibt es nicht, dafür erstmals „Frauen die wie Katzen kreischen“ live und in Farbe und so weiter und so fort.

 

Die Erlenholzgitarre erreicht zeitweise Schallgeschwindigkeit. Makarios hat es längst aufgegeben seinen Doktor zur rechten Seite in liedgerechte Tempo-30-Zonen zu führen. Knapp drei Stunden geht das so. Bis zur letzten Schnapsbar an einem Abend, der mehr als gelungen ist. In tiefer Nacht pustet man letzten Rauch aus den Lungen. Nichts wie ins Bett, das steht nicht weit von hier. Und der sanfte Regen spielt ein glockenhelles Kopfsteinpflaster-Mitsummlied dazu: Geh weg mit deiner Herzscheiße…

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