Tortenschachtellampen sind wahrlich visionär (273)


Beginnen wollen wir die Aufzeichnungen des vergangenen Tourwochenendes mit einem Prolog sowie einem Intermezzo.

 

Vor der Tour (Prolog):


Drei Flachetappen stehen vor dem Team der Russian Doctors. Doping ist ausdrücklich erwünscht, wenn heute, am 19.04. gegen 21:00 Uhr die Ziellinie im Wittenberger Irish Harp Pub erreicht wird. Am 20.04. zieht es das Fahrerfeld nach Birkholz zu einer privaten Sonderwertung und am 21.04. werden die Russian Doctors nach großem Finish im Berliner Duncker-Club das Podest erklimmen. Die Siegerehrung beginnt pünktlich 20:00 Uhr innerhalb der Schönegeistershow, um danach in den Ball der Wodkasportler überzugehen.


Doktor Makarios


Nach zwei Konzerten (Intermezzo):


Das vergangene Wochenende hat meine Lebenserwartung um einige Wochen verringert, aber was soll's... selten so viel gelacht und jede Menge Spaß gehabt! Danke an alle die dabei waren!


Brotnowaljow Numski Guinnessoff


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Die Sonne über Leipzig strahlt noch ein wenig gelber, als Fürst Fedja Doktor Pichelstein bereits vor der Abreise nach Wittenberg verpackte Schokolade mit dem Konterfei der 2014er IIHF-Weltmeisterschaft in Minsk überreicht. Herrlich, eigentlich, wenn es nicht so weit wäre, müsste man da ja hin, keine Frage. Mit einem, wenn auch kleinen Beitrag zur sehr in Mode geratenen Steuerhinterziehung zwischen den Lippen schmaucht es sich fortan erst mal gen Wittenberg, in die lutherane Biberstadt. Der Meister der Schankwirtschaft, Brotnowaljow Numski Guinnessoff, lädt ein zum „Kleinen Pratajev-Kongress“. Die Örtlichkeit, das Irish Harp Pub, wurde dafür bis an die Zähne bewaffnet mit leckeren Getränken. Sogar Zauberzigarren befinden sich im Sortiment, die sich sogar am nächsten Tag noch aus Lederjackenaußentaschen ziehen lassen. Wenn auch nicht mehr in vorab dargereichter Form.

 

Die Bühne, mittlerweile mit Kisten und Gitarren beladen, schweigt bisweilen jungfräulich. Erste Gläser Guinness sind verzapft, schon tritt Winogradow den Pratajev-Forscherbeweis des Tages an. Die Flasche Rakija, gefüllt mit selbst Gebranntem aus Bulgarien, zerschellt, lässt man sie schüttellähmend fallen, nicht auf dem Boden, denn sie ist aus Plastik. Oder Plaste, wie der Sachse sagt.

 

Der Sachse wird an diesem Wochenende viel sagen, belassen wir es erst einmal damit. Eademakow tritt derweil den Zweitbeweis an, dass heute und unbedingt „Jeder Schluck ein guter Schluck“ sein wird und B.N. Guinnessoff bietet ein obskures Tortenpaket feil. Drin befinden sich, neben einer Postkarte von Peter Richter, zwei professionell zu betreibende Lampen mit Batteriebetrieb. Adressiert an die Russian Doctors. Na, was will man mehr? Darauf hübsch ein Kaltgetränk, einen Sound- wie Pensionscheck.

 

Doktor Pichelstein wird derweil Flüssigeintopf mit Wodkageschmack überreicht; Schenker Eademakow trägt sich mit dem Gedanken, heute ein selbst gehandarbeitetes Schwesternkostümchen ans Revers zu heften. Warum es nicht dazu kommen wird, weiß allerdings nur der Wind. Dr.h.c.mult. Mary Fiction erkundigt sich an der Schnapsbar nach tragfähigen Biersorten. „Und dann noch Waidbauer“, entgegnet der Kellner. „Was?“

 

Gespräche dieser Art zwischen Sachsen-Anhaltinern und Berlinern sollen schon zu heftigen Dissonanzen geführt haben, denn der Berliner versteht dann eben „White Power“. So ist aber alles gut, der Kellner kichert und die erste Runde Bulbash, kredenzt vom Fürsten, rundet sich in Maximalschlucken auf; Winogradow ermahnt Eademakow, das Glas vollends auszutrinken, bevor es wieder warm wird. Schon ist’s gekippt und ersterer wischt sich letzte Tropfen von den Lippen.

 

Nach all diesen und weitaus uferloseren Episoden, unter denen sich so mancher Lachmuskel mit der restlichen Gesichtsknorpulatur im Klinsch befindet, werden die Gläser gen Nordsachsen gehoben, wo der heute sich im Krankenstand befindliche Forscher Gurt Kaktus das Lager hüten muss. So fällt u.a. eine der immerhin drei geplanten Verkostungen hochgeistiger, pratajevlastiger Getränke aus. Andererseits könnte auch gefragt werden, was wohl geschehen wäre, wenn zu aller Trinkbarkeit noch berühmte Kaktus-Sorten wie „Flying Helga“ oder „Pratazotti“ hinzu addiert worden wären. Man will es sich gar nicht vorstellen; Wittenbergs Innenstadt, in der noch echt-seltenrunde Außenfenster verbaut wurden, sähe heute gewiss ein wenig anders aus.

 

Doktor Makarios erblickt unterdessen von Ferne eine Gruppe dem Pub zustrebender Lehrer, die wenig später verkünden, im Laufe des Abends dem Ganzen unbedingt bewohnen zu wollen. Ebenso erfreut sich die Gemeinde über das Erscheinen von Peter Richter aus Wismar. Ein großes Hallo dem Visionär, denn die Idee mit den Lampen sollte sich im weiteren Tourverlauf noch als äußerst nützliche Erscheinung anbieten.

 

Das Konzert beginnt feucht, fröhlich, rasant. Gleich zu Beginn hagelt es gelben Schnaps. Doktor Pichelstein ist verzückt, Doktor Makarios führt die nächtlichen Bewohner des Irish Harp auf Pratajevs Reisen. Links wie rechts und geradeaus sprengt die Zustimmung Bände. Leckeres Astra perlt auf der Bühne nach innen, während es nach außen nur so strömt. Dann wird pausiert, treten die Pratajev-Gladiatoren Winogradow und Eademakow in den Ring und präsentieren eine teils bulgarisch, teils deutschübersetzt tönende Ballade über ein Schicksal am Strand von Irakli. Die Worte Eademakows „Nun trag ich dein Kind im Bauche / Deinen Verrat im Herz / Schnaps ich trink und Tabak rauche / Es bleibt nur noch Schmerz“ zu den Gitarrenklängen des Winogradow lassen Blumen sprießen und auch welken. Die Doktoren nicken zustimmend, rasch geht’s in der Folge weiter, denn auf einem „Kleinen Pratajev-Kongress“ will unbedingt und immer ein Geschwindigkeitsrekord auf der Akustikgitarre gebrochen werden. Das Rennen entscheidet eindeutig die „Harte Wirtin“ für sich. Doktor Pichelsteins Finger und Handgelenke wirbeln, als gäbe es kein Morgen, doch zur Belohnung einen Schnaps.

 

 

Die Lehrerschaft, mittlerweile Teil des Gedränges, beinhaltet, zum Erstaunen des Dr.h.c.mult. Mary Fiction, sogar eine Schulsekretärin namens Sabine oder hieß sie doch anders? Jedenfalls bekommt sie Berliner Komplimente und lächelt ganz stolz. Der Pratajev-Reigen befindet sich mittlerweile im Zugabeblock bei „Wünsch dir was“, unterbrochen von zigmal „Schnapsbar“. Die Spendendose für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje lässt keinen Tauschhandel zu. Das Volk dankt B.N. Guinnessoff für die Realisierung eines äußerst gelungenen Abends und darf sich ruhig ärgern, den verpasst zu haben. Lang ist nicht zu Ende; selbst kurz vor Toreschloss wird Doktor Pichelstein noch in die so genannte „nächste Kneipe“ verschleppt. Im Wissen, die Pension keinesfalls im Alleingang wieder finden zu können. Und während Winogradow dortselbst, vom Publikum angefeuert, zur Gitarre greift, kreist das letzte Kaltgetränk im Kopfe.

Ein Traum aus Apfel, Sahne und Zimt (272)


Im Kaffeehaus Gräfe, am Johannisplatz zu Jena, lässt man sich gerne nieder. Außerdem schmeckt’s Frühstück hier weitaus besser, als im Hotel. Einerseits, andererseits schlägt die Uhr bereits zur Mittagsstunde und wer will sich da lange vorher für harte, kalte Eier an den Restbeständen des Buffets abhetzen? Hier rennt nur eine rum, Kellnerin Sabine. Wie eine flinke Streifenmaus von Tisch zu Tisch, runter zur Theke, rauf zu den Gästen. Allein beim Zusehen gerät man völlig außer Atem und bekommt Seitenstechen. Nach Verzehr des ersten Ganges ordert Doktor Makarios Petit four in der Mehrzahl. Unter stoischer Kaffeezufuhr steht dem Wachwerden, nebst langsam anschwellender Teilnahme am geistigen Leben, bald nichts mehr im Wege. Die Fahrtüchtigkeit dürfte somit gegeben sein; es geht über Leipzig vorwärts nach Torgau. Beschauliche Stadt, eine geballte Bastion an Kultur darin. Genau dort, in der Kulturbastion, soll heute konzertiert werden.

 

Immer war die Gastfreundschaft unter Torgau-Konzerten ein Genuss; bisweilen gastierten die Doctors bereits einige Male im Brückenkopf. Auch in der Bastion wird lecker aufgefahren, was Wanderer, Reisende, stets hungrige wie durstige Musiker gerne benötigen, um zu späteren Stunden frisch ans Werk gehen zu können. Man sollte das nicht unterschätzen – je schöner die Umstände, desto glücklicher der Unterhaltungskünstler. Es muss ja auch nicht immer ein ganzes Schwein am Spieß sein :) Nun denn. Auch die Technik passt; der Soundcheck spielt sich quasi wie von selbst. Nichts wie zurück ins Backstage; erste Pratajev-Forscher werden geherzt. Brotnowaljow Numski Guinnessoff, sonst um diese Tageszeit im Wirtsleutejob des Wittenberger Irish Harp Pub anzutreffen, hat sich extra frei genommen. Schwarzbrennermeister Gurt Kaktus präsentiert neuste Erzeugnisse aus der Schnapsforschung. „Nacktschnecke“ und „Miloproschenskojer Schnapsteeschnaps“. Allenthalben werden die edlen Tropfen verkostet.

 

Sehr gute Jahrgänge; in der önologischen Weinsprache stünden jetzt Bezeichnungen wie üppig, reich, weich oder gleich ganze Sätze wie „Beim Abgang sehr kuhsattelig“ im Fokus des Lobes. Brotnowaljow Numski Guinnessoff und Doktor Pichelstein stoßen an. Leckere Rouladen verlangen sanfte Nachspülungen. Zuletzt staunt der schnellste Erlenholzgitarrist nicht schlecht; als hätte sich die zuletzt in Leipzig grassierende Becherovka-Knappheit im Kaufland an der Dresdener Straße herumgesprochen. Boris Brutalowitsch und Gattin überreichen doch tatsächlich eine Karlsbader Flasche. Ist denn schon wieder Väterchen Frost?

 

Schließlich erscheint sie am Horizont der Bastion, die Torte zum 10-jährigen Bestehen der Russian Doctors. Ein Traum aus Apfel, Sahne und Zimt als weiteres Produkt aus dem Hause Gurt Kaktus. Doch dazu später; erst einmal will ein Konzert gespielt werden. Um 22:30 Uhr ist’s so weit. Selbst mit dem Taxi aus Wittenberg und, bemerkenswert, aus Wismar reiste man zu diesem heiligen Zwecke an; heute ist die Fata Morgana des gestrigen Abends also tatsächlich da.

 

 

Gleich zu Anfang jubelt sich der kleine Saal an der Schnapsbar kräftig durch. Die pfefferminzlastige Getränkeversorgung der Doctoren übernimmt ein gestandener Blueser gleich aus dem eigenen Flachmann. In immer kürzer werdenden Abständen taucht die Flasche aus Stahl, zum Zwecke der Entleerung, vor den Mikros auf - der Inspirations-Spiritus zeigt Wirkung. Doktor Makarios und Doktor Pichelstein haben großen Spaß, feine Pratajev-Anekdoten funken und irrlichtern durch die Runden. Die Gitarre ist mal wieder kaum zu bändigen. Manche im Publikum lächeln darunter fein und wissend, andere rasen, toben oder fallen bereits in sich zusammen wie ein Soufflé. Dann geht’s in die Pause, an die Schnapsbar, auf Ledersofas. Doktor Pichelstein erfährt eine Menge übers harte Los der Punks in Torgau und widmet sich einer Gruppe von Ausbildungsschülern, Sektion: Steuerrecht. Die haben es auch nicht leicht, wenn man ihnen die Schnapsfasche reicht.

 

 

Weiter geht’s im Pratajev-Crashkurs. Das Intro der letzten Feldmänner-Tour läuft, russisches Landleben entfaltet sich vollends. Da es den Russian Doctors möglich ist, aus einem Liedtresor von geschätzt 80 bis 90 Titeln auszuwählen, zählt man mal das ein oder andere Giftschrank-Demo hinzu, krempelt sich das geplante Set zusehends um, darf natürlich der „Raucher von Bolwerkow“ nicht fehlen, auch nicht „Gelber Schnaps“ oder „Frauen die wie Katzen kreischen“. Mittlerweile ist der Zugabeblock eingeleitet worden, heftige Rumpftänze sind die Folge, finden ihre Meister in der Bluesfraktion. Doktor Pichelstein spielt weiterhin, als wäre er vor einem Feuer auf der Flucht und so brennt der Schnaps in den Kehlen, tost das Publikum, fordert das großartige, intensive Konzert seinen Tribut. Die erste Stahlsaite reißt, eine Weltpremiere folgt: Es ist die A-Cappella-Version der Schnapsbar. Dann nichts wie runter von der Bühne. Zwischen Tortenverkostung und Centralhotel vergehen weitere Stunden - in der Punkrockhauptstadt Torgau wird, was im Backstage zu beweisen ist, dafür immer auf Teller und Gabeln verzichtet. Es tropft die Sahne, der Nacktschneckenschnaps hält fit. Was für ein Abend.

 

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