Dawai, Neman Grodno! (266)


Geprägt von erwartbaren, somit einkalkulierten Morgen-, resp. Mittagstiefs: Tagesziel Nummer eins: Informationen verarbeiten (zähfließend), Nummer zwei: die Rückkehr des Winters nicht gutheißen (Spatzen füttern), Nummer drei: Auftritt im „Noch Besser Leben“, in Plagiwtz (unfreiwilliges Spiegel-Motto: „Leipzig is the better Berlin“). Eintreffen am Club: 19 Uhr, Aufbau der Anlage: 19:30 Uhr, Soundcheck: 20:00. Die Minuten verrinnen zäh wie Leder, langsam erwachen beide Doctoren zu neuen Taten. Und dann stehen plötzlich überall Stühle im Saal, ist ein Interview gegeben worden, Dr. hc. Mult. Mary Fiction reicht Jäger und Sammler Doctor Pichelstein eine herrliche Berliner Käsebemme nach Mutters Art. Fürst Fedja setzt noch einen drauf; beglückt Prumskis Erben im Erlenholzgeiste mit einem Eishockey-Trikot des weißrussischen Teams HK Neman Grodno (Belarusian Extraleague). Stolz wird’s übergeworfen, Doctor Makarios nickt anerkennend.

 

 

Um 21:30 Uhr knallt die erste Klappe, beginnt das Pratajev-Seminar im „Noch Besser Leben“. Andächtig, nahezu artig richten sich die Sinnesorgane des versammelten Publikums gen Bühne. Gestern noch stage-diving (annähernd), wilde Tänze, scheppernde Gläser, ineinander fallende Menschen (Post-Gothic!), heute gilt es, den Saal zum Toben zu bringen. Gar nicht so leicht, doch machbar ist es schon. Doctor Makarios führt das klatschende Seminar an, nimmt es mit auf Pratajevs Wanderwege, Doctor Pichelstein drischt wie von Sinnen auf die frisch besaitete Gitarre ein und schafft die Sensation: Die Schallmauer des Plagwitzer Publikums wird gleich mehrfach durchbrochen. Teilweise hat es den Anschein, als wolle der schnellste Akustikgitarrist der Welt seinen Sangesdoc im Spielen mehrfach überholen. Aber das ist ja auch kein Wunder. Schließlich trägt der ein Trikot der schnellsten Mannschaftssportart der Welt. Die Folgen dieses, jetzt von Anfeuerungen (Dawai!) aus dem Publikum begleiteten, Unterfangens bleiben nicht ungesühnt. Platzen doch zwei Gitarrensaiten gleich auf einmal. Die dicke A und die D. Das soll mal einer nachmachen. So kommt die Ersatzklampfe ins Rennen; im Fetischblock gibt’s die Voyeure – und alle singen mit. „Da haben wir sie doch, mein Doktor“, raunen sich die Vortragenden zu, peitschen alles nach vorn, den Wind, der den Atem anhält und andere Salven aus den Vorgärten Miloproschenskojes.

 

Dann reift der Entschluss, es für heute gut sein zu lassen. Drei Zugabeblöcke stellen sich an, gebrannter Belarus-Vodka lockt zur Wiederholungstat. Mit letzter Kraft wird die Bühne beräumt, selig, trunken liegt man sich in den Armen. Pratajev is the better Kaminer. Yes.

 

Post-Gothic! (265)

 

Drei lange Monate drehte sich die Welt ohne frenetische Aufführungen der Russian Doctors weiter; mittenmang hatten sich die Erben Pratajevs in ein metallastiges Studio namens Echolux zurückgezogen, dort so ganz nebenbei den Post-Gothic erfunden. Eine musikalische Schublade, in der es sich anmutig leben lässt. Nach „Post-Punk“, „Post-Metal“ nun also „Post-Gothic“. Möglich wurde dies alles durch den wunderbaren Aufnahmeleiter Andy Schmidt. Ende Februar erschien schließlich „Wiege deinen Rumpf“, die CD zum 10-jährigen Bestehen der Doctors. Zwei kleinere Proben waren nötig, um das frische Pratajev-Kapital spielfähig präsentieren zu können. Wichtiger bisweilen erschien das Einstudieren des frischgebackenen Post-Gothic-Modetanzes „Wiege deinen Rumpf“. Die Doctoren Makarios und Pichelstein führten, unter Zufuhr belebender Getränke, diverse Vorschläge einem ausgewählten Jurypublikum vor; schon wurde ausgewogt, gewiegt, gerumpft. Der Abend im Flowerpower konnte starten. 10 Jahre Doctors, verbunden mit einer 4-Punkte-Tour durch die Heimatstadt; selbst die Leipziger Volkszeitung schrieb „Das ist neu!“

 

Der Chef persönlich ist vor Ort; André Streng tarnt sich als Hausmeister und überreicht das Willkommenspräsent, einen Schnapsbecher aus Holz. Zwar stammt der aus Finnland, spielt für die Bermasik-Forschung der Pratajev-Gesellschaft in Zukunft jedoch gewiss in Bälde größere Rollen. Zuletzt entwickelten einzelne Forscher im Haus aus Stein Nummer 7 die Idee, Pratajev sei immerhin bis nach Schweden vorgedrungen. Finnland liegt bekanntermaßen gleich um die Ecke. Findet auch Philipp, eingeteilt vom „Hausmeister“ für die Umsorgung der Doctors. So schwebt man zwischen Soundcheck, Schnäpsen, Brötchen dahin und das Flowerpower füllt sich immer mehr. Wo soll man stehen? Wo soll man gehen? Glücklich ist, wer heute Privatier ist und sitzt oder steht oder liegt. Oder auf dem Weg zu jemandem ist. Das ist völlig egal. Und so freut es umso mehr, dass Magdeburger, Berliner, Dresdner, Wittenberger, Chemnitzer und viele mehr aus weiten Teilen der Republik anreisten, dass selbst Genosse Winogradow (Hauptstadt) dem Ruf des Forscherkollegen Eademakow folgt, in Lichtgeschwindigkeiten vor Ort ist. Nicht vergessen wollen wir Fürst Fedja aus Belarus! Es leben die Zigarren der Zufriedenheit, ihr Rauch verleihe uns, beim Schnapse, Glückseligkeit.

 

 

Die Pratajev-Revue erklingt; das ganz neue Programm erfährt mit der „Schönen aus der Stadt“ ihren Post-Gothic-Anfang. Philipp ist derart gerührt, dass die Regler ein wenig später als geplant rotbereichig kulminieren. „An ihrem Garten“ folgt und so geht es immer weiter. Tief hinein, ins Herz Russlands. Pratajevs Wege, Leidenschaften, Nebentätigkeiten, seine Dichtkunst und Würze sprechen früh Bände. Und zaghaft wird der wiegende Rumpf gewogen. Natürlich, ein neuer Tanz, der will geübt werden. So neu ist das Programm, dass Doktor Pichelstein schon mal arg vom Text abweicht, eine Runde Schnellgitarre drüber legt - weiter geht’s mit den Weisen, die noch lange erklingen werden. Über die Pause hinaus, an der Schlange zur Schnapsbar vorbei, in die Zugabeblöcke hinein. Endlos hätte man spielen können, doch einmal muss es genug sein. So einen feinen Auftakt ins Tourjahr darf man sich wünschen, doch bekommen dürfen ihn nur The Russian Doctors. Und das, liebe Freunde, ist Euer Werk. Bis morgen, nicht weit von hier, im „Noch Besser Leben“.

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