Rhabarber an der Schnapsbar (277)


Zurück zu den Wurzeln, auf ins Subway to Peter. Club der Eroberung aller Pratajev in Chemnitz-Geschichten. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein; befüllt mir Borna-Eula-Tankstellenwürsten verträglichen Ausmaßes steuert Fürst Fedja den Weißrussenpanzer gen Leipziger Straße, dann immer geradeaus, abbiegen nicht vergessen. Es ist Oberbürgermeisterwahl; die plakatierten Kandidaten sehen allesamt so aus, als glaubten sie das, was als To do-Liste unter ihrem Konterfei prangert, tatsächlich. Nur die amtierende Rathaus-Chefin verzichtet auf Gewäsch, auf Kofferworte wie Sicherheit, Familie, Natur. Ein Slogan wie: "Wählt mich" reicht vollkommen aus. An einer Ampel beißt eine Freundin des Theaters herzhaft in einen Apfel, kurbelt die Fahrerscheibe runter und ermuntert den Pratajev-Tross ihr doch bitte zu folgen. Doch nein, das geht natürlich nicht. Lächelnd geht’s links ab. Im Schlagerradio versucht derweil eine Baumarktkette sich an, Zitat: „nachgewiesenen Flutopfern“ schadlos zu halten. Werbung mit der Not. Unglaublich. Die Konzertbesucher der Russian Doctors haben übrigens auch schon gespendet; letzte Woche wurde die Miloproschenskojer Wirtsleutekasse geplündert und komplett nach Grimma überwiesen.

 

Die Tradition, dass es im Subway erst so gegen 23 Uhr mit den abendlichen Konzerten losgeht, wurde vollends verdrängt. So trudelt nichtgrillwilliges Volk an diesem feinen Sommertag entsprechend spät ein. Schön anzusehendes Weibsvolk wird gleich zur Begrüßung mit „Na du Drecksche“ umgarnt. Bis dahin gilt es, die Bühne spielfähig zu machen, frisch vom Händler eingetroffenen DIE ART-Wein dem Merchstand zuzufügen und sich allerlei Unsinn zu berichten. In mindestens zehn Jahren wird es nämlich so weit sein, dass die Nahrungsverweigerung studentisch angeführter Randgruppen ihrem Höhepunkt entgegen strebt. Gegessen wird dann gar nichts mehr. Weder das, was vom Baum gefallen ist, noch das, was nur so aussieht, als wäre es ein Mett-Igel.

 

 

Nachdem das Intro verklungen ist, legen die Doctoren los und werden aufs Äußerste belohnt. Denn wenn ein Konzert spät beginnt, sind große Teile des Publikums bereits nach der dritten Pratajev-Weise betrunken und in entsprechender Feierlaune. So muss es sein! Selbst Doctor Makarios, Erfinder und Verkoster verschiedener Tonic-Mixgetränke, verspürt dieses Sujet am eigenen Leibe. Doctor Pichelstein dagegen, das ist hinlänglich bekannt, treibt das Spiel mit den kleinen und großen Gläsern, erst voll, dann leer und wieder voll, stets zu Höchstleistungen und so ist es kein Wunder, dass am Ende wieder einmal Finger bluten, Plektrums in die Menge fliegen und ein Kübel Schwitzwasser aus den Poren rinnt.

 

Der vorab abgelegte Schwur, heute keinen Knoblauchschnaps zu trinken, hält sich die ganze Nacht. Aber! Im Subway gibt es eine neue Bar-Köstlichkeit. Rhabarberschnaps. Zwischen zwei Mexikanern serviert, ein sinnvoller Genuss fürs Intervall. Dann ist Pause. Neues in Sachen Geocaching wird Pichelstein erörtert; die Fraktion der Feldrandfrauen und Männer könnte in Zukunft gar Rümpfe wiegen. Gefunden werden müssen: The Russian Doctors. Makarios und Pichelstein harren derweil, wohl gelitten, ihrer Dinge in einem sanierten und prächtig hergerichteten Bau oder Erdloch. Frisch gefunden, wird hernach konzertiert.

 

Der Abend ist mittlerweile tiefste Nacht; Teil zwei des Konzertes, der Wunschblock, die Zugaben sind vorüber. Ein letztes Tablett Rhabarber macht die Runde, so wird es Zeit fürs Taxigehen. Die Gitarren geschultert, auf ins dankbar hergerichtete betreute Wohnen. Wo ein roter Kirschmond im Glase süßlich seine Runden zieht.

 

Der Ersatz-Prinz (276)


Die Zeit der Muße war nur kurz; nach dem Goldeck-Spektakel auf dem Berliner Remili-Spreeschiff am Mittwoch, einer Folgenacht, die an anderer Stelle gewiss noch Erwähnung finden wird, versammelt sich der erweiterte Doctorentross am Labelbüro, bereit, wieder fahrtüchtig, zu neuen Abenteuern. Fürst Fedja steuert den BMW. Doctor Pichelstein den Audi. Und weil bereits am Samstag der Goldeck-Tanker in Jena Station machen wird, ist Gitarrenmatrose Shiva gleich mit an Bord.

 

Das Ziel ist die Eröffnung des 13. Göpfersdorfer Holzbildhauer-Plenairs im malerischen Grenzgebiet zwischen Thüringen und Sachsen. Doch bevor das Land des Pratajev-Kongresses 2013 angesteuert wird, ereignet sich an der Shell-Tankstelle Borna-Eula eine Wurstübersättigung mit späterhin für Pichelstein weitreichenden Folgen. Denn die Wurst, eine bockige mit Senf, ist eindeutig zu groß. Alle anderen orderten zuvor, gesegnet mit dem Quell der Vernunft, die S-Variante für den kleinen Hunger.

 

Als das 400-Euro-Jobmädchen indes den arglos hinzu stromernden Pichelstein befragt, sagt der nur: „Groß“. Wie zauberhaft doch Tankstellenmädchen lächeln können, selbst wenn sie die 50 lange überschritten haben. Eine XXL liegt auf dem Teller. Die ersten Hapse klappen, dann wird es schwer. Versuche, Fürst Fedja oder Makarios Großreste anzudrehen, scheitern. Die Teilzeit-Kindheitstraumata des Gitarrendocs aber rufen: „Iss, Junge, iss, dann gibt es morgen schönes Wetter; die Kinder in Afrika würden sich freuen, so eine tolle Wurst am Spätnachmittag verputzen zu dürfen (…)“

 

Gefüllt wie eine pralle Dönertüte, unkontrollierbare Geräusche dabei von sich gebend, Wurst aus dem Zahn heraus piepelnd, ohne Verdauungsschnapskonsum in Reichweite, setzt Pichelstein die Fahrt fort. An den Wegesrändern lassen sich, nach der Abzweigung ins Thüringische, die Kreuze vermissen. Discounfälle: Fehlanzeige in Ermangelung an Discos. Dafür sprießt die Natur aus jeder Ritze, ein ländliches Idyll bis hin zum Quellenhof und auch darüber hinaus.

 

Die Begrüßung durch das Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft, Nikolaj Plautski, ist herzergreifend. Dann kartoniert und schnapsergreifend; schon löst sich die bockige Wurst ein wenig, verhindert aber dennoch die Lust, ins dargereichte Fettige zu greifen. Das aber wäre klug gewesen. Dann einzig eine Bockwurst stellt keine befriedigende Grundlage für eine wilde Doctors-Sause dar. So ist es nun mal und man benötigt keinen Eselsführerschein, um solches Wissen zu beweisen.

 

Die Künstler, ihre Entourage, Nachbarn, Freunde, Dorfbewohner – alles versammelt sich mittlerweile im Atelier. Rasch wird die Bühne aufgebaut, eine Klangprobe genommen, schon kreist der Schnapskarton erneut, steht der Becherovka, der Bulbash kühl im Eise. Diskussionen, ob der Leipziger Osten, speziell die Eisenbahnstraße, immer noch ein lebend’ Trümmerfeld darstellt, wo Bäume nur deshalb nicht aus Häusern wachsen, weil die Häuser ständig brennen, verebben mit dem an Pichelstein gerichteten Satz: „Wenn ich mir deine Frisur so betrachte, könntest du auch bei den Prinzen mitmachen“. Verdutzt starren alle auf die Fläche oberhalb von Doctor Pi’s Sonnenbrille. Der das sagt, ist Künstler, Dorfbewohner oder alles zugleich. Man einigt sich schließlich auf die Funktion eines Ersatz-Prinzen. Die gute Landluft birgt interessante Ideen; lieber Sebastian, wenn Du das hier liest, keine Sorge. Ein Doctor bleibt ein Russian Doctor :)

 

 

Plötzlich, die Reden sind verebbt, verschwunden wie guter Wein, heißt es für Makarios und Pichelstein: Ab in die Pratajev-Ecke, der „Schönen aus der Stadt“ gelüstet es, hervortreten zu dürfen. In Reihen sitzen bereits Damen und Herren, dem Kulturbeitrag harrend, während an der Schnapsbar die Drehverschlüsse knirschen und die Korken plöppen.

 

Pichelsteins Bockwurst verursacht mittlerweile fürchterliches Sodbrennen; Talcid schafft Abhilfe. Dann ist sie mit einem Male verschwunden, die Wurst. Hunger, Pichelstein leidet Hunger und spielt bereits das dritte Lied im Programm. Statt Hack gibt’s Schnaps, immer wieder, der sich zunächst wohlig in die leere Magengrube legt, dann in Strohhalmmanier gen Blutzirkulation gerät. Bis zur Pause. Erschöpft sinkt der Gitarrendoc draußen nieder; neuerliche Ersatz-Prinz-Diskussionen halten erneut vom Verzehr fetthaltiger Nahrungsmittel ab. Weiter geht’s mit dem Russen im Keller über die Tierlieder bis auf einmal ein mumifizierter Frosch die Bühne erreicht. Makarios besieht den einst fröhlich quakenden Teichlüstling; es kommt, was gesungen werden muss: der „Gelbe Fettfrosch“. In der Historie der Erben Pratajevs die Nummer drei an Mumienpräsenten. Bis dato gab es eine Ratte und zwei Katzen.

 

 

Vorm heftig umjubelten Zugabeblock wird den Wirten aus Miloproschenskoje ein klapperndes Denkmal gesetzt. Fürst Fedja sei Dank. Der Unbill der Bockwurst führt zu ersten Ausfallerscheinungen. Gerade noch gelingt es Doctor Pichelstein die Galerie der schönen Malkünste Richtung frischer Brise zu verlassen. Schon erklärt er Shiva sein Leid, unterschreibt noch ein paar Tonträger und macht sich auf kleiner Reise davon. Über Hügel, Stöcke und Steine geht es wenige Meter nach rechts. Eine Bank, auf der gewiss manch Armer schon saß, ist das Ziel. Eben noch in die Sterne schauend, bettet sich das müde, trunkene Haupt auf hartem Holze. So kann auch nur von ungefähr berichtet werden, was dem Pratajev-Tross in wenigen Metern Abstand derweil noch wiederfährt. Sei es der spontane Erwerb einer Holzplastik, seien es die Lobeshymnen der älteren Semester auf Makarios, dem beschieden wird, mindestens die Aura eines Joachim Schwanzers, also eines Joe Cockers, zu verströmen. Sei es der Sturz des Shivas über strenge Zeltdrähte, auf dem Weg zur langsam anrollenden Suche nach dem schnellsten, verschwundenen Gitarristen von ganz Garbisdorf.

 

Doch Ende gut, alles gut. Nicht bei den Lebendfröschen wird dauerhaft genächtigt; die Helden der Landluft, Fedja und Plautski, sammeln Pichelstein von der Bank, schultern ihn, leiten ihn zum Gästehaus und am nächsten Morgen kräht der Hahn ein Lied von Matthias Reim.

 

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