Betreuter Ausschank mit Gurke (271)


Der Frost frisst die Straßen, möchte man meinen. Großen Appetit verspürte er zuletzt in Leipzig und schlug die Zähne kräftig in die Betonbetten hinein. Manche Löcher sind derart groß, da ließe sich was mit Fischen und Anglern machen. Doktor Pichelstein sieht sich also gezwungen mit dem Tourauto Slalom zu fahren. Ein Unterfangen von wagnerhaftiger Tragik, im klassischen Sinne. Während draußen fieskalter Schneegriesel am demolierten Selbstbewusstsein der Stadtbewohner nagt. Bestimmt werden zu dieser Jahreszeit gerade Bücher mit Titeln wie „Der Glamour des Verfalls“ oder „Als ich das Ponyfellsofa nie wieder verlassen wollte“ in der Szene geschrieben. Doctor Makarios hält hingegen die Fahne des Optimisten hoch. Zwei Wetterberichte werden seit Wochen täglich zu Rate gezogen. Der eine verspricht stets gar nichts Gutes, der andere weckt Hoffnungen auf Sonne, Biergarten und Grillbesteck in Händen. „Ich nehme jetzt immer die Mitte, das passt dann meistens“, so der Sangesdoctor zum Gitarristen.

 

Auch nach Ankunft in Jena, dasselbe Bild: Slalom im Audi-Super-G, deprimierte Einwohner. Doch das muss nicht mehr so bleiben. Verschieben sich die Frühblüher bisweilen noch ein wenig nach hinten; The Russian Doctors sind in der Stadt. Die Rettung, die Heilung geruht zu scheinen. Mögen körpereigene Morphine darunter Sonnen in manches Herzelein tragen.

 

Nach zähem Eincheck ins IBIS (umdisponieren auf Raucherzimmer - ja, die gibt es tatsächlich noch) werden Koffer und Gitarren in die Krautgasse 22 verlagert. Schwupps gibt’s das erste Rosenschwarz aus der Flasche, erklären sich 50 anwesende Prozente des Majorlabels fortan bereit, täglich, weil aus beruflichen Gründen, Kinderlieder anstimmen zu wollen. Da können Doctoren nur zustimmen, während der Alster-Chefwirt mit den Tücken der Knopfvielfalt am Mischpult kämpft und zunächst kurzfristig als Sieger von der Bühne geht.

 

Nach dem Soundcheck heißt’s: Mal schauen, wer alles schon da ist. Noch wird draußen geraucht, also auf zu Pratajevs Jeaner Forscherfreunden. Frau Polenz sei im Besonderen genannt, dann die lieben Menschen aus der JG. Lothar König lässt Grüße übermitteln. Nichts wie an die Schnapsbar: ein Toast, ein Hoch, eine Solibekundung. So geht das in Russland. Und natürlich auch in Jena, im Alster. Die Treppenstufen knarren, eine Fata Morgana namens Peter aus Wismar geht hinauf und kommt nie mehr wieder, wird verschlungen im Gewühl. Denn proppevoll ist’s mittlerweile; erste Gurken werden den Doctoren nach Verspeisen feinster Italo-Küchenleckereien gereicht.

 

 

Eine Gurke ist ein Glas Wodka mit zwei Gurkenscheiben dran, das wollen wir nicht nur am Rande erwähnen, denn in den folgenden Stunden gurkt es ungemein. Man nennt es „Betreutes Trinken“ – genau so wurde es schließlich auch in der lokalen Prawda angekündigt. Dann rauf auf die Bühne, das Intro läuft, nur hat sich einer der unzähligen Schaltknöpfe derweil selbst den Status „Mute“ verpasst und das im Generalmodus. Den Übeltäter zu finden erfordert Geschick und Gurke; die Spannung steigt wie in einer Mondrakete. Da schwebt sie schließlich aus den Boxen: „Die Schöne aus der Stadt“, die „An ihrem Garten“ so manches erlebt, womit der erste Spieldurchgang beginnt. Und man darf es voraus nehmen: Doktor Pichelstein scheint derzeit in der Form seines Lebens zu sein; selbst zartere Pratajev-Weisen werden in ein Tempo gelenkt, das es gar dem Sangesdoctor darüber ab und an die Sprache verschlägt. Dazwischen und immer gibt es Gurke, heftige Zustimmung im Publikum und manches Glas zerscheppert darüber auf dem Boden.

 

Nach der Pause rasen die Kapriolen weiter durchs Alster. Der lokale Depressionsgenerator „Wetterfühligkeit“ verstummt und lässt den Jubel branden. Unterm Bild der Mona Lisa ist alles gut und gerecht, folgt der Wunschzugabeblock und nur „Der Hund ist nicht das Schwein“ muss unberücksichtigt bleiben. Lieblingslied eines Zimmermanns aus Gotha, den es einst in die Weite der schönen Welt hinaus trieb, allerdings ohne vorher der Freundin darüber Bescheid gegeben zu haben. Mal schauen, ob sie noch da ist, die Freundin. Darauf eine Mutgurke und noch eine – für den Zimmermann. Doctoren schwenken um auf „Tonic mit was drin“. Es ist die Sonne der Nacht, sie ist braungelb und lacht.

Du bist zwar noch nicht so alt – aber als Pferd wärst du schon Seife (270)


„Wo mag es denn nur zum Fritz-Kräuter-Haus gehen?“ Als sich die Russian Doctors diese Frage am Ostersamstag stellen, ist es bereits Abend, stecken fünf Stunden Fahrt in den Knochen. Der einzige Raststättenstop, inmitten des Neue-Perspektiven-entdecken-Landes Brandenburg, führte lange vorab erneut zur Lokalkolorit-Erkenntnis, dass es nicht nur in Sachen Flughafen verbesserungswürdiges gibt, nein, auch der Sektor des Kaffeekochens gehört absolut neu überdacht. Da müssen Expertengremien ran! Die Brühe schmeckte so schlimm, dass Doktor Pichelstein nach dem Hinunterkippen reflexartig in die Talcid-Arzneikiste griff, Doktor Makarios, als der Weisheit letzten Schluss, den Becherinhalt nur halb in sich hinein goss, aus dem Rest braunen Schnee produzierte. Denn nein, nichts ist es mit dem Frühling. Der wissenschaftlich herbei gepredigte Klimawandel scheint in völlig konträre Richtungen abzudriften. Während der Gesamtreise schneite es, an den Straßenrändern türmten sich die Wehen teilweise einen Meter hoch. Zugvögel, vor allem nach Erreichen der kulinarischen Leckergrenze von Mecklenburg-Vorpommern, sah man recht ratlos übers eisige Brachland staksen, Rehbraten taten es ihnen gleich; Doktor Makarios deutete auf einen Himmel voller Gans-Formationen. „Tschüss, es geht wieder zurück nach Süden, vielleicht bis Portugal.“

 

 

Unter diesen Eindrücken, die Bundesliga-Konferenz bis zum Ende verfolgend, bog man schließlich ins Ländliche ab, Richtung Grevesmühlen, Roggenstorf. Unweit der heilvollen Ostsee, bei Travemünde. Immer den traktornen Streufahrzeugen hinterher, im dichten Schneetreiben. Und so folgte, wie mit den Veranstaltern abgesprochen, das Navigations-Telefonat. Fritz-Kräuter-Haus also, da soll’s hingehen. Nach wenigen Kurven wird aus Kräuter schließlich Reuter; einige Dörfer weiter, in Stavenshagen, stand nämlich die Wiege des Mundartdichters mit Vornamen Fritz. Alles klar. Auf zur mehrfach 30er Jahres-Party. Koffer, Hinstells, Gitarren ins Haus. Ein großes Hallo folgt, erste Getränke werden kredenzt; voller Bewunderung und Ehrfurcht dreht sich am Spieß ein ganzes Dorfschwein. Herrlich, so war es, so muss es bei Pratajev gewesen sein. Makarios und Pichelstein, beim Anblick des gesamten Ensembles, samt versammelter Mannschaft, freuen sich hungrige Löcher in die Bäuche. Das urig-schöne Nachtlager wie Ferienhaus Walnuss, im benachbarten Rankensdorf verortet, wird inspiziert. Danach gibt’s Schwein, Kräuter aus dem Wald, einen kleinen Soundcheck und wieder Schwein. Lecker.

 

 

Den anwesenden Geburtstagskindern wird honoriges Liedgut zu Gehör gebracht; die Wände zieren nur beste Glückwünsche. Ein Laken ist besonders hübsch bemalt. Es trägt die Inschrift: „Du bist zwar noch nicht so alt – aber als Pferd wärst du schon Seife“. Ballons platzen an tollenden Kindern darüber; das ganze Dorf; geschätzte 100 Menschen, säumen den Saal. Noch ein Stück Schwein an Sauerkraut, dann gibt’s den ersten Pratajev-Satz. Die Stimmung wächst mit jeder Weise; Doktor Pichelstein wird schnellster Gitarrist von ganz Nordwestmecklenburg. Alles noch steigerungsfähig bis zum Diskant, keine Frage. Doktor Makarios muss erst mal einen kleinen Zwist schlichten. Denn das früh gewünschte Lied „Der dumme Nachbarsjunge“ hat nichts mit der hiesigen Nachbarschaft gemein. Schließlich hat’s Pratajev in den 50er Jahren verfasst. Der jüngste Russian-Doctors-Fan, versehen mit einem schicken Shirtlatz, bekommt wenig später, unter großen Mädchenaugen, Autogramme geschrieben.

 

 

Doktor Makarios nippt in der Disco-Tanzsause an Milchschnäpsen, schafft den Becher in wenigen Zügen und wundert sich: „Mein Doktor, furchtbar, ich bin schlagartig betrunken.“ „Das muss an der Milch liegen.“ Derweil werden Pichelstein Vorzüge finnischer Metalbands näher definiert; gemeinsam wird darunter das Handzeichen „Shocker“, unter Bedeutungshoheit „Two in the pink, one in the stink“, geübt. Es soll sogar entsprechend farbige „Shocker-Handschuhe“ geben, um das damit verbundene Anliegen, vielleicht nicht unbedingt beim österlichen Kirchgang, einmal mehr und mitmenschlich zu verdeutlichen. Nach einem Disco-Fox für die Mütter geht’s mit den Russian Doctors weiter. Diesmal mit mehr Pegelkraft am Mischpult, allen Hits, die gen Bühnenplatz gerufen werden. Schnell, schneller, Pichelstein. Doktor Makarios‘ Stimme umschlingt dabei die seines Gitarristen, Saiten bersten, die rasanteste „Schnapsbar“ seit Einführung dieser Pratajev-Lyrik ins Programm wird geboten und dann muss es nach einigen Zugaben gut sein. Zurück geht’s ans Buffet, noch mal schnell vom Schwein es Stück, dazu Kräuter aus dem Wald, Kaltgetränke, ab ins Taxi. Die Walnuss wartet, der nächste Tag bringt die Sommerzeit, doch auch während der Rückreise wird davon nichts zu sehen sein. Ganz im Gegenteil.

 

Ein großer, lieber, warmherziger Dank an die Küste!

 

Roggenstorf

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