Wenn Pratajevs Medizinische Schriften wahr werden (256)

Pratajev-Forscher leben gefährlich. Befassen sie sich mit dem Sujet der Medizinischen Schriften, etwa im Zahnbereich, ist der Besuch einer ebensolchen Klinik nicht mehr fern. Zum Glück muss heutzutage kaum mehr befürchtet werden, dass auf dem Gebiet der Implantologie zwar sterilisierte, wenn auch bedenklich geschnitzte Holzgebisse zum Einsatz kommen. Genauso steht es, nach Antibiotika-Experimenten, um die Haarzunge. Weiblichen Forschern droht der Verzerrte Mund, verschweigen wollen wir ebenfalls folgende Krankheiten nicht: Schleim am Arm, Lungenschizophrenie, Holz im Auge und, weil leidvoll aktuell dem Ehrenvorsitzenden der Pratajev-Gesellschaft, Doktor Makarios, angetragen: Luft im Bein. So etwas zerrt an den Nerven, das braucht Schonung, sehr junge Schwesternschülerinnen, Heilung und die Entscheidung, nach dem heutigen Konzert auf dem Dresdener Elbhangfest eine kurze Genesungspause einzulegen, wurde mit größtem Verständnis (nebst Bedauern) aufgenommen. Heißt: Die Doctors pausieren bis Anfang September, verkrümeln sich zwischendurch ins Tonstudio und nehmen ein neues Album fürs Jubeljahr 2013 (10 Jahre TRD!) in Angriff. Der Herbst wird, was wird er? Heiß! Egal, ob die Blätter fallen und aus allen Gallen bösartige Substanzen steigen. Nein, das wollen wir nicht geschrieben haben. Haben es doch und hoffen, dass Pratajevs medizinischer Nachlass zur Raison gebracht wird.

 

Gemächlich holpert und pirscht sich das Tourauto zur Villa Ulenburg; gesucht wird ein Weißer Hirsch, gefunden eine schicke Pension mit Blick mindestens bis ins Riesengebirge. Blauer Himmel, 30 Grad, die Sonne gibt sich finaltauglich. Das nächste Ziel heißt Loschwitz, Alte Feuerwache. Gewöhnliche Fragen wie: Kann man den 2011er Auftritt hier eigentlich noch toppen?, die stellen sich nicht. Geruhsamkeit gewinnt und alles wird sich richten. „Das ewig Weibliche zieht uns zum Hang“, lautet das Motto des 22. Elbhangfestes So soll es sein.

 

 

Doktor Pichelstein richtet die Bühne her, Pratajev-Forscherin „me…“ Sonnemachtalbern gibt sich die Ehre und überreicht den Erben Pratajevs einen Fund von unschätzbaren Werten: Miloproschenskojer Seife, zurückzuführen auf Pratajevs Gefolge, hergestellt u.a. aus Katzeschinskis Schlachtkatzen. Eine Sensation. Und obwohl besagte Seife ein halbes Jahrhundert in staubigen Ecken verbrachte, verströmt sie bisweilen noch wohlfeines Odeur. Andächtig streichelt man über den Fund, bestellt neue Getränke und trinkt sie andächtig weg. Ja, das passt, denn dem zum Gegenteile füllt sich das Rund der Feuerwache. Ein großes Hallo allerorten; tapfer lächelt auch Doktor Makarios, dann ruft er zum Aufschwung. Das Intro läuft, die Feldmänner starten, das Konzert nimmt Fahrt auf - ach wie herrlich dieser Tag doch ist. Warum auch immer dreht Doktor Pichelstein die Schnelligkeit der Pratajevweisen mal in die eine, dann in die andere Richtung, spielt die Toten Katzen in den Russen-Reggae, die Harte Wirtin erreicht dagegen schwindelerregende Beats/Minute, um schlussendlich als Schwanenseeballade im Schnapsteich trunkener Gefühle zu ersaufen. Die Stimme des Doktor Makarios, angesteckt ob solcher Abgründe, schwebt erhobenen Basshauptes drüber hinweg.

 

 

Bis in die Zugaben geht das so, bis der Abend gelebt, überlebt, geliebt und gelungen ist. Morgen, am Sonntagnachmittag, wird Doktor Pichelstein ein Russian-Doctor-Solokonzert geben. Bang ist ihm nicht, froh ist er, dass es dem Sangesdoktor heute gut geht. Man liegt sich in den Armen und das wird immer so sein.

 

Ein Sommermärchen (255)


Schwer vom Fado gezeichnet gleitet das Tourauto, mehr langsam als schnell, gen Jena. „Mein Doktor, es ist alles so furchtbar“, sagt einer zum anderen. „Heute gucken alle Fußball, da kommt bestimmt kein Mensch“. Andächtige Pause, sogar das Radio schweigt. „Jaja, na mal schauen“. Selbst die Zebrastreifen werden, wie im Süden Europas üblich, als Empfehlung gesehen; Doktor Pichelstein denkt an den gerade erst vergangenen Urlaub, an Portugal und die Fußgängerinnen schimpfen wie deutsche Fußgängerinnen mittleren Alters halt schimpfen, wenn sie nicht zu ihrem Verkehrsrecht kommen. Aber das Motto des Tages, des Jahres, des Lebens lautet nun einmal: „Verzweifelt, wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung“. Das Unrecht heißt Deutschland. Die Empörung darüber ergibt sich so von selbst. Bleiben Sie bitte eine Weile in Portugal, genießen Sie das Land und was erwartet einen zurück in Deutschland? Genau, schimpfende Fußgängerinnen mittleren Alters. Überteuerte Zigaretten, schwarz-rot-goldene Hobbyhorden, Pommes mit Majo, all das.

 

 

Und Lothar, den Pfarrer der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte. Ein erster Lichtblick streift die Doctors. Ein Quell voller Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Lothar ahnt den Fado der Doctors. „Da stimmt was nicht, die schauen so traurig“, mag er denken. Ein Plenum wird einberufen, die Frau- und Mannschaft der JG abendlich angeheizt, feurige Brände kreisen und langsam lächelt Doktor Makarios. Lächelt auch Doktor Pichelstein. Obschon ihm eine portugiesische Doradengräte seit Tagen im Zahnfleisch steckt. Ein Umstand, gefüllt mit Schmerzmitteln. Nein, zum Zahnarzt will er nicht. Noch nicht. Aus den Boxen erklingt André Heller; ein trauriges Lied, was der Lothar da auflegt. Da ist er wieder, der Fado. Noch einen Trank, dann einen Trunk. Vor den Toren der JG läuft das Public Viewing der Europameisterschaft. Erstes Spiel. Deutschland gegen? Natürlich gegen Portugal.

 

Der Soundcheck ist schnell erledigt; im Schankraum wartet französisches Huhn an Kartoffeln, Erbsmöhrenbrei. Dazu wird Weißwein serviert. Herrlich. Immer näher rückt Portugal, das jüngst verlorene Paradies. Das jüngst für kurze, na gut, für etwas längere Zeit, verlassene Stück Himmel auf Erden. Meine Güte, was für ein Mahl. Und was geschieht mittlerweile draußen? Die ersten sehr bekannten Gesichter tauchen auf. Da ist der Eddi vom Majorlabel, die Anne, da sind auch noch Jahn & Marczinke und die treten jetzt auf. Zu Hofe füllt es sich. Immer mehr Menschen folgen dem Motto des Tages. Unrecht und Empörung wachsen; die Sonne geht darüber unter, der freie Himmel indessen weint überhaupt nicht.

 

Dann starten die Doctors mit ihrem Pratajev, dem es hier gewiss gefallen hätte. Und spielen sich in einen gefühlt nie enden wollenden Rausch. Der Fado kann so etwas, der setzt ungeahnte Kräfte frei. Und sehr dankbar ist man auf der Bühne über die kurzen Besuche vom Lothar, seinen Jungs und Damen. Denn stets hat wer ein Gläschen Brand dabei. Immer wenn das gesungene Wort „Schnaps“ auf die tobende, tosende und feiernde Menge übergeht, ist das das Zeichen. Und wer Pratajevs Texte kennt, weiß nur zu genau, dass der Dichter damit in seinen Texten nicht geizte. Und so geht es weiter und weiter, immer weiter. Bis in die allerletzte Zugabe hinein. In den Walzer der Schnapsbar. In den Himmel von Portugal. Denn die Sterne, die da oben stehen, die stehen auch über der Algarve. So weit weg kann sie also gar nicht sein.

 

Lieber Lothar, liebe Menschen der Jungen Gemeinde Jena. Das war wahrlich ein Fest. Ihr habt zwei kleine Doktoren sehr glücklich gemacht. Das Leben ist halt manchmal ein Sommermärchen.

 

 

 

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