tour_tagebuch
Auf zum 23. Elbhangfest. Gleich mehrere Automobile machen sich aus Leipzig mit auf den Doctorenweg. Heute dem Pratajev-Tross beiwohnen zu wollen, darf als weise Entscheidung geherzt werden. Brotnowaljow Numski Guinnessoff, Fürst Fedja, Goldeck-Art-Experte Shiva und wie sie alle heißen. Doktor Pichelstein trifft als erster an der Alten Feuerwache ein. Kinderfüße und Aufsteller wurden weder an- noch überfahren. Gar nicht so leicht, den Spielort zu erreichen. Voll ist der Elbhang, noch scheint die Sonne und alle haben Hunger, Durst und erfreuen sich an der Verameisung des Menschen. Eine wahrlich philosophische Wortschöpfung, welche Doktor Makarios, gezeichnet von den Erlebnissen des gestrigen Fusion-Festivals, eben erst kreierte.
Pichelstein fällt am hurtig gefundenen Becherovka-Stand passend dazu eine weitere Philosophie an. Es ist jene über die Verblockflötung von Kleinstkindern. Nichts gegen die Kleinkunst, davon lebt ja so ein Elbhangfest. Nichts gegen die lustigen Männer und Frauen, die sich sächsisch gefärbte Sätze um die Ohren hauen, dass weitere Wortschöpfungen wie Tourette das Gehör der Welt erblicken, bzw. akustisch mit sich voll machen. Jedenfalls. Die Verblockflötung von Kleinstkindern ist ganz schlimm und furchtbar. Kinder sollten Eis essen, an Zuckerwatten kleben und Karussell fahren. Die meisten tun das zwar auch, doch einige wenige meinen, mit einer mindestens 35-fachen Wiederholung des gefühlvollen Liedes „Greensleeves“ den Stein der Weisen gefunden zu haben. Zumindest was die Bewältigung ganzer Nachmittage zur Aufbesserung des Taschengeldes betrifft. Ist das schon Kinderarbeit? Natürlich ist es das. Und die Gage fällt auch mager aus. Drei Gläser Becherovka, siebenmal Greensleeves, im Hut: 20 Cent. Da lässt es sich in Bangladesh, aber nein, so weit wollenwir gar nicht fahren.

Froh ist man, als die Bühne steht, auch die Nachfolgepartyskarockband mit allem zufrieden scheint, Grillfleisch an Ketchup gereicht wird. Nur, dass es ausgerechnet vorm Konzert regnen muss. Blöd. Doch die meisten Menschen tragen Schirme, Rettungsschirme. Und wenn mal einer fehlt, kuschelt man sich an den Nachbarn. Als das Intro gegen halb neun über den Feuerwachenhof donnert, hofft man nur, dass es keine Schlammschlacht geben wird, dass die Deiche halten, was die Elbe nicht verspricht.

Im Trockenen stehen und über Pratajev dozieren, musizieren. Leicht gelingt es heute sogar Tanztumulte anzuzetteln. Pichelstein blickt mehrfach sehr bewundernd ob der vorhandenen Textsicherheit ins verehrte Publikum. Daraus lässt sich doch bestimmt ein Chor formen. Doktor Makarios, mit besten Kontakten zur sich linksseits der Bühne befindlichen Schnapsbar, sorgt für überraschende Strophenverkettungen, des Gitarrendoctors Saitenhysterie knackt fast den Weltrekord in der „Harten Wirtin“. So tönt, schreit, singt, spielt es sich mit großer Lust und Laune. Schwitz es sich, nicht zu vergessen. Selbst die Mücken rutschen am glatten Pichelsteinhals ab und können sich nicht festsaugen. Aufgeheizt geht’s in den Zugabeblock, nachdem die heutige Geschichte Pratajevs über große Strecken vorläufig zu Ende erzählt ist. Die Doctoren überlegen kurzfristig, ob sie nicht zum Stagediving ansetzen sollten; somit wäre einer pratajevgerechten Schlammschlacht Tür und Tor geöffnet. Doch nein, nass wie die Schwitzfische aus dem Bolwerkower Musikerteich, der so heißt, weil Pratajev darin einmal lästige, furchtbare Instrumente am Tag der Maultrommeln von Igursk versenkte, geht’s in den Niesel hinein. Auf an die Schnapsbar, an den Grillstand, zur OB-LA-DI-OB-LA-DA-Becherovka-Frau (die Flasche für 62,50 Euronen. Erkenntnis: Nach jedem Jahr Elbhangfest, erster Tag, sagen sich die Doctoren: Schöner kann’s nicht werden. Und glücklicherweise irren sie da.

Hot Docs verschmähen Schurkenstaatenschnaps (279)
Eigentlich hatten sich die Doctors auf ein freies Wochenende gefreut, mal blau machen statt grün zu werden. Tomatenplantagen auf Vordermann bringen, abends, mit einem guten Schluck in Händen, selbstgezogene Erdbeeren und allerlei vom Grill verdrücken. Sich von den Strapazen der Woche erholen, Teilzeit-Schreibtisch adé. Das war der Plan. Doch nein, ein Anruf aus Plagwitz bescherte ein zusätzliches Konzert im Jahreskalender. Warum nicht? Auf Westbesuch gehen, zum Straßenfest, ein Heimspiel sollte es werden und wurde es auch.
Die Sonne lässt alle Freitagsunwetter vergessen, als Tiefgaragen unter und Wohnzimmer im Wasser standen. Betroffen war allerdings nur der Leipziger Süden, dort, wo die Karl-Liebknecht-Straße fließt. Auf der Karli-West, der Karl-Heine-Straße, fließt derweil Publikum von Stand zu Bude. In, wie der Spiegel im Frühjahr so schön berichtete, „better Berlin“, wird konzertiert. Direkt vor einer Hot-Dog-Bewirtschaftung. So mutieren, geschuldet den Drinks und der Hitze, die Russian Docs eben zu den Hot Docs. Eine Bühne gibt es zwar auch, doch müsste man die einige Meter verrücken, worauf gänzlich verzichtet wird; Fürst Fedja, geschwächt ob der Umstände der vorherigen Nacht (O-Ton: Einmal mit Profis arbeiten) greift in die Vollen, Pratajevs Berliner Forscherkolleg um die Herren Winogradow und Dr.h.c.mult. Mary Fiction fasst mit an.
Schon steht die Anlage zur Beschallung des Westbesuches im Paket; schnell noch der Ausspruch strikter Trinkverweigerung in Sachen nordkoreanischen Ingwerschnapses, 60 %, vom Opa des derzeitigen Diktators vor Jahren an Winogradows Vater verschenkt. Gerne hätte man probiert, doch die gelbe Flüssigkeit schäumt mit weißem Aufsatz und gemahnt eher an eine Chemiekatastrophe auf dem Miloproschenskojer Feuerlöschteich, denn an ein leckeres Stelldichein, bzw. Kippdichein. Das Auge trinkt eben mit, hm, vielleicht stellt sich eher noch die Frage, ob nicht diverse Augen mitgetrunken werden? Hut ab vor den furchtlosen Verkostern Vincent und Shiva. Dennoch: Mittlerweile befindet sich die Flasche im provisorischen Pratajev-Museum. Na, vielleicht um Besucher damit zu verköstigen. Wer weiß? Vom historischen Wert ist der Speiseröhrenreiniger nämlich schon aller Ehren wert. Echter Schurkenstaatenschnaps!

Dann geht’s los, starten die Heimatweisen des großen Dichters Pratajev. Laut Vertrag soll eine Stunde konzertiert werden, doch da 60 Minuten nun mal knapp bemessen sind, um wenigstens einen kleinen Einblick ins russische Landleben zu erhaschen, wird überzogen. Ohne Pause geht’s direkt in den Wunschblock hinein. Doctor Pichelstein, heute sehr experimentierfreudig, gibt Gas, anspornende Vodkabecher werden gereicht. Doctor Makarios sehnt die Schnapsbar ein ums andere Mal herbei, dann ist’s geschafft, wurden neue Welten erschlossen und mancher, der vorher noch nie bei den Russian Doctors war, wird wieder kommen.
Liebes Westpaketbesuchspublikum, sehr vielen Dank! Auch an all jene, die für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje spendeten. Und so greift sie um sich, die alte Sommertante Nacht. Hier, in Leipzig-Plagwitz, wo sich Fleischäpfel und vegane Würstchen sehr lieb haben.
